Alles Land - Roman
Suche nach einem festen Punkt war erfolglos geblieben. Und wenn das Gefühl zu treiben eine feste Grundlage besaß, wie der Rest der Welt auch? Eine wissenschaftliche Basis wie alles, woran er glaubte? Er würde suchen müssen, und wie bei jeder Suche, bei der man das Ziel nicht kannte, galt es, an allen möglichen und unmöglichen Stellen nachzusehen. Auf seltsam sichere Weise besaß er, der doch immerzu alles infrage stellte, keinen Zweifel, am Ende fündig zu werden.
Die Entstehung der Kontinente und Ozeane
»Magnifizenz, Spectabiles, hochverehrte Professores. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die Gestalt der Erde, namentlich die Kontinentaltafeln und die ozeanischen Becken, aus einem einzigen umfassenden Prinzip heraus zu deuten.«
Ein unterdrücktes Raunen lief durch den Saal. Wegener wollte weitersprechen, doch er musste schlucken und räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. Das Geräusch schwoll an. Es kam von überallher, aus der Holzvertäfelung der Wände, aus den schweren Vorhängen am Bühnenrand, es speiste sich aus dem leisen Knarren der hölzernen Sitze hier im großen Hörsaal der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft, aus den vielfältigen Bewegungen, mit denen nun Zwicker zurechtgerückt, Gehröcke glatt gestrichen, Augen beschattet wurden. Sie wollten ihn verunsichern, ihre Zweifel anmelden und ihren Vorbehalt.
Sie wussten, worauf er hinauswollte, sie hatten den Titel seines Vortrags in der Einladung gelesen: Hauptversammlung der Geologischen Vereinigung – mit einem Gastbeitrag »Neue Ideen über die Herausbildung der Großformen der Erdrinde«. Sie ahnten, was er vorhatte: ihnen den festen Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Sie waren nicht zum Applaudieren gekommen. Sie wollten ihn untergehen sehen.
Dreieinhalb Jahre war es her, dass die Danmark dänisches Mutterland erreicht hatte. All die Wimpel, die Photographen, die Orden. Weil Wegener unterdessen Assistent am Aeronautischen Observatorium in Lindenberg geworden war, hatte er einen Antrag stellen müssen, um die Auszeichnungen verliehen bekommen zu dürfen. Die Annahme von Geschenken bedurfte der Genehmigung des vorgesetzten Herrn Ministers.
In der Pustervig – Einsamkeit hatte er sich geschworen, Menschenansammlungen zu meiden und jedem Rummel aus dem Weg zu gehen. Eine Veranstaltung jedoch regte er gleich nach seiner Rückkehr selber an: einen Lichtbildervortrag über seine grönländischen Ballonaufstiege auf der Tagung der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft in Hamburg. Es gab ihm Gelegenheit, Professor Köppen wiederzusehen und mit ihm nicht nur die Ergebnisse der Reise zu besprechen, sondern auch diese neuen Gedanken, die ihm nun immerfort im Kopf herumspukten.
Köppen hatte Wegeners selbst ausgesprochene Einladung freundlich bestätigt. »Sie sind jederzeit bei uns willkommen Wir brauchen in der Meteorologie jetzt solche Köpfe.« Was hatte er damit sagen wollen? Nur weil er sich hinausgetraut hatte, ins Wetter? Köppen war mit Frau und Tochter zu dem Vortrag gekommen, sie saßen in der ersten Reihe.
Else war während seiner Abwesenheit eine junge Dame geworden, was ihr gut stand. Sie schwärmte, wie ihr Vater
vor der Veranstaltung verriet, für alles Ungewöhnliche. Er habe den Eindruck, dass auch Wegener in diese Rubrik falle. Else hatte den Direktor ihres Lehrerinnenseminars gebeten, sie für den Tag von der Schule zu beurlauben, um all das zu sehen, was sie nun vorgeführt bekam: die verführerischen Lichtbilder, den Forscher, der so einnehmend sprach, noch immer ganz verbrannt von der arktischen Sonne.
Beim abendlichen Festessen war sie seine Tischdame. Es gab Rindsmedaillons mit dunkler Bratensoße. Wegener bemühte sich, sie zu necken, und Else musste sich tüchtig zusammennehmen, um halbwegs zu parieren. Er spürte ihre Befangenheit und zog, um die Atmosphäre zu lockern, die Photographien hervor, die er nun immer bei sich trug. Es waren dieselben, die er in der Polarnacht so oft angesehen hatte, er zeigte sie den Umsitzenden am Tisch. Jeder hatte Fragen, es war, wenn man es genau nahm, ja kaum etwas anderes darauf zu erkennen als weiße und schwarze Flecken. Wegener musste feststellen, dass ihm beim Erklären der Bilder die Stimme brach. Else sprang ein und extemporierte aufs Reizendste, wen oder was die Aufnahmen wohl zeigten: Spuren im Schnee, eine Polarfüchsin mit ihren Jungen, Schmelzfiguren in einem überfrorenen Wasserlauf. Was für ein phantastischer Gefährte sie war. Aus
Weitere Kostenlose Bücher