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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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oben, er genoss ihn, bis er bemerkte, dass es die Perspektive kreisender Geier war, eine Feststellung, die sich vom Wissen, dass es hier keine Geier gab, nicht zurückdrängen ließ.
    An einem harten Schiffskeks brach er sich einen Eckzahn ab.
     
    Er kam auf die Idee, eine leere Brotbüchse als Wärmflasche zu nutzen, und klammerte sich beim Einschlafen mit angezogenen Beinen daran. Zu seinem Unglück befand sich die Büchse noch immer in seinem Schlafsack, als er mitten in der Nacht feststellte, dass ihr Deckel nicht richtig schloss. Er war in einer warmen Pfütze erwacht, wie in längst vergessenen Kindertagen. Woher rührte die Angst, die ihn bei dieser Vorstellung bezwang? Dann fiel ihm ein, wo er sich stattdessen befand: in einer kleinen Hütte an der Ostküste Grönlands, allein, umgeben von ewigem Eis. Hatte er selber entschieden herzukommen? Ihm fiel nicht gleich ein, was er hier tat. Es nahm Tage in Anspruch, den Schlafsack zu trocknen.

    Der abgebrochene Zahn entzündete sich bald, und es war kein Arzt in der Nähe. Also begann er im Dämmerlicht der Stube eine Flachzange umzuschmieden, um die Wurzel herauszuholen. Er ließ die Zange in der Lötflamme ausglühen, dann schlug und feilte er sie zurecht. Die Wurzel aber bekam er nicht zu packen, trotz zweistündigen Wühlens im Zahnfleisch. Auch das Vorbohren mit einem Schraubenzieher half nicht weiter.
     
    An einem Morgen vor der Hütte ertappte er sich dabei, wie er mit einem Skistock eine ungelenke Figur in den Firn zeichnete, um einen Kameraden zu haben. Er hörte sich mit ihm sprechen und wollte den Kopf schütteln über so viel Unsinn, bewegte sich aber nicht. Er malte Feldmann dazu, auf den Hinterpfoten sitzend, den Blick emporgerichtet zu seinem Herrchen aus Schnee. Wegener warf sich vor, ihn nicht begraben zu haben, die Wölfe hatten ihn geholt. Er weinte ein wenig, die Tränen gefroren noch an den Wimpern.
    Frieren war nun seine Hauptbeschäftigung.

    Wenn er an seinem Tischchen saß, ließ er manchmal das Kinn hängen, so dass ihm der Mund offen stand, aus Faulheit und weil es ohnehin niemand sah.
    Nachts träumte er, ein riesiger Hund zu sein. Er hatte sich von seinem Schlitten losgerissen und rannte hinaus in die Leere, die ganz weiß war. Als er auf seinem Lager aufschrak, war es dunkel. Wie angenehm schwer seine Glieder waren. Es dauerte einen Moment, bis er zu seiner Verwunderung
bemerkte, offenbar noch immer ein Hund zu sein, die Erschöpfung betraf nicht nur zwei Beine, sondern alle vier. Er blieb so liegen und erinnerte sich an die Lust, die es ihm bereitet hatte, auf vier Pfoten unterwegs zu sein. Bis zum Tagesanbruch lag er da und ließ sich zurücksinken in dieses Hundegefühl, er strich sich über die Läufe und putzte sich.
    Manchmal wälzte er sich im Schnee, es sah ja ohnehin niemand zu. Manchmal bellte er.
     
    Als der Traum zurückkehrte, versuchte Wegener wach zu bleiben, um der Gewalt dieser Eindrücke auszuweichen. Er redete sich ein, seine Wache schütze die Hütte vor dem Angriff wilder Tiere. Dabei war er längst so weit, dass ihn der Anblick eines wilden Tieres eher gefreut als geängstigt hätte. Auch seinen Träumen überließ er sich am Ende ohne Widerstand.
     
    Nur im Schlafen leistete er daher mehr als daheim. Das Nordlicht hatte er nun oft genug gesehen, um eine lebendige Anschauung davon zu haben, daher legte er sich zumeist schon unmittelbar nach Ende der kleinen Mittagshelligkeit wieder hin. Schließlich fiel er vollends in eine Art Winterschlaf, aus dem er nur zum Essen auferstand.
    Man musste essen, so viel man herunterbringen konnte, das sagte er sich auf wie ein Gesetz, wenn er in seinen wachen Momenten wahllos eine Büchse nach der anderen aufbrach. Eines Nachts öffnete er sämtliche verbliebenen Fleischdepots im Umkreis der Hütte, er stellte sich vor, ein Wolf zu sein, aus wissenschaftlichen Gründen, es ging um die Erkundung ihrer Lebensweise, von innen heraus, ein
mimetisches Verfahren, an das er morgens nach dem Aufwachen nur noch düstere Erinnerungen besaß. Bei einem unmittelbar danach angesetzten Kontrollgang fand er die Depots verheert, zerrissene Fleischstücke im Schnee, aus denen einzelne Fetzen herausgebissen waren, dazwischen Tropfen roter Flüssigkeit, ausgespucktes Fleisch. Die größeren Stücke räumte Wegener zurück in die Depots, den Rest bedeckte er mit Schnee. An diesem Tag machte er drei Ablesungen außer der Reihe, mit unveränderten Werten.
     
    Der Zahn eiterte nun so heftig, dass

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