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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Flamme.
    Zu Silvester musste er sich in Ermangelung von Alkoholika den Punsch denken. Stattdessen gab es so lange Rotweinpralinen, bis es ihm gelang, sich auch den Schwips zu denken. Er spendierte einige Stäbe Lötzinn und spielte Bleigießen mit sich selber. Es war Nachmittag, als er begann, die Abendablesung hatte er heimlich vorgezogen. In einem Topf brachte er etwas Schnee zum Schmelzen. Weil die Kneifzange nicht gleich zu finden war, knickte er die Stäbe, bis sie brachen, legte einige der Stückchen auf einen Esslöffel und hielt ihn über seine Kerze. Nach einer halben Stunde war alles schwarz verrußt, aber die
Stücke noch immer nicht geschmolzen, also zündete er die Lötlampe an und hielt den Löffel in ihre Flamme. Wie verführerisch das Metall zu schmelzen begann, wie es glitzerte, wie warm es aussah. Wegener wünschte sich, darin zu baden, in dem silbernen Leuchten. Vorsichtig goss er die Flüssigkeit in den Topf, mit scharfem Zischen erstarrte sie im Wasser und sank auf den Grund, bewegungslos wie eine Fliege im Bernstein. Wegener fischte die Form hervor und betrachtete sie. Eine Schlange, mit flachem, etwas verdicktem Kopf. Und was hatte das nun zu bedeuten? Dass man ihn verführte?
    Er wiederholte das Experiment und legte die Resultate nebeneinander. Betrachtete sie ausführlich und führte lange, ergebnislose Debatten mit sich selber über die Deutung ihrer Formen. Vor ihm auf dem Tischchen lagen, in dieser Reihenfolge: eine Schlange, ein Regenwurm, ein Mäuschen mit langem Schwanz, ein weit abgerolltes Wollknäuel, mehrere Tränen, eine Handvoll Kaulquappen. Er hätte sich jede mögliche Prophezeiung dafür ausdenken können. Aber wenn er ehrlich war, musste er bei alldem nur an eines denken: Es sah aus wie eine Sammlung von Spermien.
    Wegener war froh, dass seine Kameraden nicht bei ihm waren. An der Küste spielten sie jetzt womöglich dasselbe, saßen gemeinsam um einen Tisch, der sich von Runde zu Runde weiter füllte mit diesen kleinen silbernen Dingern. Sie würden sich lauthals überbieten, eine Bedeutung nach der anderen darin zu entdecken, nur um nicht zugeben zu müssen, dass sie in einem Meer aus Spermatozoen saßen.
    Um halb zwölf beschloss er, es nach Ortszeit Neujahr werden zu lassen, und legte sich schlafen.

    Der Geschlechtsdrang war ein Problem, auf das ihn niemand vorbereitet hatte. In den ersten Wochen seiner Pustervig-Einsamkeit hatte er gar nicht genug von sich bekommen können. Sobald er die Augen schloss, war er umgeben von Frauen. Er füllte seine Hütte mit ihnen, sie standen ihm zur Verfügung, wann immer ihm danach war. Sie waren blond, rot oder dunkel, kräftig oder hager, aber alle hatten die Augen geschlossen. Kaum eine von ihnen war ihm bekannt. Manchmal meinte er Else zu erkennen, in einer Ecke, ebenfalls nackt, wie alle anderen auch, aber mit offenen Augen. Sie sah ihn an, so war es jedes Mal, wenn sie auftauchte. Sie sah ihm zu.
    Er bemühte sich dann schnell, die anderen Frauen zu vertreiben, und wirklich löste sich eine nach der anderen einfach auf, bis er allein blieb mit seiner Braut. Sie schwiegen eine Weile. Meist war es Else, die irgendwann zu sprechen begann.
    Was tust du hier?
    Ich forsche.
    Das sehe ich. Machst du Fortschritte?
    Ich war eben dabei, eine Entdeckung zu machen.
    Bis ich gekommen bin. Auf welches Ziel warst du aus?
    So oder ähnlich verliefen ihre Gespräche, die sich schon bald in immer engeren Kreisen drehten.
    Was wollte er von Else, was fürchtete er? Würde er sie wirklich ehelichen? Wollte er von ihr sagen, sie sei seine Frau? Wollte er das überhaupt von jemandem?
    Und endlich: Wünschte er sich Kinder mit ihr? Wenn er nach seinen Aktivitäten ins Halbdunkel vor der Hütte trat und sich mit Schnee sauber rieb, überwältigte ihn die Zahl der Zeugungen, die er hier achtlos vertat.

    Zum ersten Mal fiel das Thermometer unter fünfzig Grad. Beim Ablesen musste Wegener sich dicht hinunterbeugen, der Reif versperrte ihm die Sicht. Was für ein kurzes Stück es von seinem Augapfel zu dieser kleinen Quecksilbersäule war, und doch lag zwischen beiden ein Wärmegefälle von neunzig Grad. Es war ein Wunder, dass es ihm noch immer gelang, die Kälte aus seinem Körper herauszuhalten. Auf dem Rückweg zur Hütte sah er sich selbst aus großer Höhe, wie er sich langsam durch den Schnee kämpfte. Die einzige Bewegung in der Starre ringsum, der einzige warme Punkt inmitten eines endlosen Feldes aus Kälte. Es war ein seltsamer Anblick von dort

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