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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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wummernden Geräusch geweckt. Es lief ihm kalt über den Rücken, er hielt den Atem an, um zu horchen, was es sei,
und am Ende erwies es sich nur als das Hämmern seines eigenen Herzens.
     
    Morgens kam es unterdessen vor, dass er hinauslief zur Thermometerhütte, um die Temperatur abzulesen, und zurückgekehrt über der Liste feststellte, dass die Werte bereits eingetragen waren. War er wirklich schon draußen gewesen? Es dauerte, bis er sicher war, sich nicht im Tag geirrt zu haben. Die Gewissheiten konnten von so vielen Seiten aus ins Rutschen geraten. Und wenn sie erst einmal unterwegs waren, ließ sich nicht mehr feststellen, was noch stand und was längst schwamm. Wegener hatte den Eindruck, Teil einer größeren Bewegung zu sein, ohne ausmachen zu können, welche Richtung sie nahm.
    Seine Schwäche sah er vor sich wie einen Feind, den es zu bezwingen galt. Er bildete sich ein, sie würden miteinander ringen, die Mattigkeit und er, und steigerte sich in diesen Zweikampf hinein, bis er am Ende merkte, dass er der Einzige war, der hier kämpfte. Sein Gegner sah ihm die ganze Zeit nur zu, ungerührt. Als könnte er einfach abwarten, bis Wegener die Erschöpfung übermannte.
    Am Ende jeder Überlegung gelangte er zu dem einen Punkt, um den sich nun alles drehte: Man entbehrte der Eindrücke. Welche Befreiung er empfand, wenn sich in der Mittagssdämmerung einmal die Kuppe des gegenüberliegenden Hügels zeigte, welche Unternehmungslust er daraus schöpfte. Dann wieder Nacht. Er rauchte nun immerzu. Der Trost der kleinen Flamme, wenn er sich die Pfeife neu entzünden musste. Der Trost des warmen Rauchs, mit dem er seinen frierenden Leib auskleidete. So saß er und spintisierte und starrte dabei auf das kleine Stück Glut in seiner Hand.

    Es war erschreckend, bis zu welchem Grade das Verlangen nach äußeren Ereignissen ging. Mit größtem Vergnügen betrachtete er die wenigen Photographien, die er zu Beginn seines Aufenthaltes angefertigt hatte. Es war nichts darauf zu sehen als das, was ihm jeden Tag vor Augen stand: der Schnee, seine Kammer, verschwommen die Fahne der Thermometerhütte. Dann aber gab es ein Bild, auf das er sich, wenn er mit Handschuhen den kleinen Stapel der Photographien durchblätterte, besonders freute. Er hatte einen Fernauslöser konstruiert, um das Bild eines Menschen bei sich zu haben. Die Aufnahme zeigte ihn selbst, draußen an der Tür, ganz grau von dem fehlenden Licht, das Gesicht halb unter der Kapuze verborgen. Beim Betrachten des Bildes lächelte er sich zu, und die Photographie lächelte vorsichtig zurück. Er sah ein wenig angespannt darauf aus, was daran liegen mochte, dass seine ganze Aufmerksamkeit der Fernauslösung galt. Das letzte Bild im Stapel war eine Aufnahme von Feldmann, mit erhobenem Schwanz kam der Hund gelaufen, die hellen Augen in die Kamera gerichtet. Wo steckte er eigentlich? Wegener fragte sich, wann er seinen Begleiter zum letzten Mal gesehen hatte, wann sie zum letzten Mal gemeinsam unterwegs gewesen waren, wann er ihm zuletzt sein Essen hingestellt hatte. Er versuchte sich ihre gemeinsamen Rituale vor Augen zu rufen, aber die Bilder verschwammen. Langsam stieg er in seine Fellschuhe und machte sich auf die Suche. Er fand ihn draußen in einem Winkel der Thermometerhütte, in der Dunkelheit, kalt und starr. Von den Jungen keine Spur. Seine offenen Augen sahen ins Leere. Wie lange schon?

    Wegener musste sich eingestehen, die Schwierigkeiten des Überwinterns unterschätzt zu haben. Merkwürdig, dass die anderen Expeditionen diesen betrüblichen Zustand verschwiegen hatten. Bald gingen seine Tabakvorräte zur Neige, er hatte sie an die Winternacht verschwendet. Halbe Tage verbrachte er mit dem Studium der Nordlichter, erregt von ihrer Helligkeit, ihren Formen, ihrer Anwesenheit. Er entdeckte Figuren darin, die kamen und gingen, die aufeinander reagierten, er ließ sich Geschichten von ihnen erzählen, Lichtbilder, denen er mehr Glauben schenkte als seinen Zweifeln daran.
    Einmal meinte er, es sei der Geburtstag seines Vaters, aber er war sich nicht mehr sicher. Saßen sie jetzt zusammen, mit allen Geschwistern, und sangen? Er summte einige der Lieder an, die infrage kamen, und erschrak über seine eigene Stimme. Dachten sie an ihn, hatten sie eine Vorstellung davon, wie er hier hockte? In den Vorräten fanden sich einige Kerzen. Um Petroleum zu sparen, befestigte er eine davon mit etwas Wachs auf der Schreibtischplatte und las stundenlang vor ihrer zitternden

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