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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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den Augenwinkeln entdeckte Wegener, dass sie ihn ansah. Er stellte fest, dass sie selbst den Blick einer Polarfüchsin hatte. Auch das stand ihr gut.
     
    Wegener zog nach Marburg an der Lahn. Er hätte überall hingehen können, aber von allen Universitätsstädten kam der kleine Ort am Fluss seiner grönländischen Einsamkeit
am nächsten. Hier könnte er in Ruhe die Ergebnisse der Reise sammeln.
    Die Hochschule war protestantisch. Im Empfehlungsschreiben des Observatoriums hatte man ihn als einen in jeder Beziehung ausgezeichneten Menschen gelobt, als den mit reichen Gedanken begabten Prototypen eines Gelehrten, ja als einen Über-Durchschnittsmenschen. Wegener hätte das Schreiben am liebsten nicht mit eingereicht, so wenig erkannte er sich darin wieder.
    Wenige Tage nach dem Dienstbeginn wurden in Marburg die ersten weiblichen Studenten eingeschrieben, für Wegener eine verstörende Vorstellung. Er habilitierte sich als Privatdozent für Astronomie und Meteorologie, in seinen Veranstaltungen saßen keine Frauen. Es gab eine kleine Sternwarte, in der er manche Nacht verbrachte. Häufig korrespondierte er mit Köppen und weniger häufig mit Köppens Tochter. Genau genommen richtete er ihr nur Grüße aus, an deren Formulierung er länger saß als an dem ganzen vorangehenden Brief.
    Im Alleingang gründete Wegener einen Verein für Luftschifffahrt, der bald einen eigenen Ballon bekam. Er maß nun ohne Unterlass, am Boden und in der Luft. Bei einem Aufstieg entdeckte er Schichtgrenzen zwischen warmer und kühler Luft, die so regelmäßig wiederkehrten, dass ihm selbst ganz heiß und kalt wurde. Und wenn man noch weiter hinauf stiege? Er entdeckte Inversionen und Sphären und Zwischensphären, es nahm kein Ende. Er hätte immerfort Aufsätze verfassen können.
    Beim Sichten der grönländischen Notizen erschrak er über die Vehemenz seiner Gedanken. Hier im Marburger Studierstübchen tat er sie ab als eine der zahlreichen
Begleiterscheinungen dieses elenden Winters. In den ersten Wochen nach seiner Rückkehr hatte er versucht, die Zeit in der Station Pustervig zu vergessen, den Bildern keine Bedeutung einzuräumen, die ihm noch immer vor Augen standen. Erst als sich die Erinnerungen bald wirklich beruhigten, tastete er sich vorsichtig näher an sie heran, als nippte er von einem überheißen Getränk, und schon bald begann er sich wieder zurückzusehnen nach den endlosen Tagen und Nächten in einer Hütte am Ende der Welt.
    Dann wieder fiel ihm das Schicksal Mylius-Erichsens ein, der tatsächlich im Eis geblieben war. Die Entsendungsreise hatte auf Lambertsland seinen Begleiter Brönlund entdeckt. Ohne Schlafsack hatte er in einer Erdhöhle nahe beim Depot gelegen, in einem Rentierpelz, die erfrorenen Füße in Zeug gewickelt. Sein Tagebuch verriet, dass sie zu dritt jenseits des Fjordes hatten übersommern müssen, weil das offene Wasser ihnen den Rückweg abschnitt. Endlich hatten sie einen Zugang aufs Inlandeis gefunden, um dort oben zurückzureisen. Als Erstes war Hagen zurückgeblieben, dann Mylius-Erichsen. Er hatte den Ratschlag der Eskimomütterchen nicht beherzigt und war ohne Nähzeug losgezogen. Bald waren seine Stiefel durchgelaufen, am Ende erfroren ihm die Füße. Brönlund selbst war Ende November am Depot eingetroffen, den sicheren Tod vor Augen. Auch er hatte wegen seiner Erfrierungen nicht weitergehen können, erst recht nicht bei Dunkelheit. Sein Tagebuch hatte er so gelegt, dass es leicht zu finden war.
     
    Und dennoch gab es Augenblicke, da es Wegener tatsächlich verlockender erschien, weit fort zu sein und unerreichbar. Wenn die Studenten ihn mit ihrer Dummheit quälten,
wenn seine Anträge auf bessere Besoldung nur immer weitere Briefwechsel nach sich zogen, wenn seine Wirtsfrau ihn in aller Herrgottsfrühe mit der Bitte weckte, die dreckigen Wanderstiefel nicht auf der Stiege stehen zu lassen.
    Oder wenn die Post aus Hamburg ausblieb. Dann kam es Wegener vor, als könnte er ebenso gut in weiter Ferne sein. In solchen Momenten stand ihm die Zeit seiner Reise auf einmal leuchtend vor Augen, das Ungestörte, die Reduktion der Farben, die Einfachheit, das unbarmherzige Regime von Dunkelheit und Licht.
     
    Im darauffolgenden Sommer nutzte er die vorlesungsfreie Zeit, um hinauf nach Hamburg zu fahren. In Altona verließ er den Zug. Die Damen auf dem Bahnsteig trugen ihre Röcke fußfrei, das gab es in Marburg nicht. Am Aufgang zur Treppe stand Köppen mit erhobener Hand, hinter ihm tauchte Else

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