Alles Land - Roman
auf und winkte mit einem Tüchlein. Wegener konnte nicht erkennen, ob sie bei der Begrüßung die Augen niederschlug, weil er es selbst tat.
Köppens Bart war noch länger geworden. Auch aus den Ohren wuchsen nun weiße Haare hervor. Er hatte einen Burschen dabei, der Wegener das Gepäck abnahm.
Schon auf der Fahrt begannen sie den Stand ihrer Forschungen zu besprechen. Vor Kurzem waren die Männer übereingekommen, einander ihre Arbeiten vor einer Veröffentlichung zu schicken.
Frau Köppen hatte wieder gekocht, an der Tür begrüßte sie ihn in der Schürze. Wegener beschlich das Gefühl, sie musterte ihn. Wie er so vor ihr stand und die Hände knetete, als hielte er sich an seinen eigenen Fingern fest, wäre er sich selber kein erfreulicher Gesprächspartner gewesen.
Es war eine Angst, die er kannte, und manchmal glaubte er, sie gelte weniger dem jeweiligen Gegenüber als der ganzen Spezies. Der Mensch war der einzige natürliche Feind, der dem Menschen geblieben war. Auch wenn Marie Köppen dafür nichts konnte. Und ihr Rosenkohl war köstlich.
Nach Tisch kündigten die Eltern Köppen an, sich ein wenig hinzulegen, ihm stehe frei, es ihnen gleichzutun. Die Tochter des Hauses erwähnte beiläufig, einen Spaziergang über die Felder zu unternehmen, auf dem er sie selbstverständlich begleiten könne, wenn ihm der Sinn nach etwas Bewegung stehe.
Kaum hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen, verstummte ihr Gespräch. Das Land vollkommen flach, nichts als Wiesen, Moor, einzelne Vögel. Vom Meer her trieb der Wind zerrissene Wolken heran, eine breite Straße Cumuli, von unten war nicht zu erkennen, wer darauf promenierte.
Nach einer Viertelstunde erreichten sie einen Deich, den Wegener mit einigen schnellen Schritten erklomm, in Vorfreude auf das dahinterliegende Meer. Als er die Krone erreichte, tat sich jedoch nur weiteres Land auf, das nicht anders aussah als die Wiesen in seinem Rücken.
Auch Else kam nun die steile Böschung herauf, für das letzte Stück reichte Wegener ihr die Hand. Eine Weile lang standen sie nebeneinander. Else erklärte ihm, was vor ihnen lag: Entwässerungsgräben, neu gewonnenes Land, in der Ferne das Wattenmeer und Inseln, die der Dunst verbarg. Er fragte sie nach dem Namen einer Insel, die dort draußen im Nebel schwamm, aber Else konnte sie nicht erkennen.
»Ich leide«, sagte sie, »an einem Star. Nichts Ernstes, aber die Augenlinsen sind ein wenig getrübt.«
»Das tut mir leid.« Wegener meinte jetzt auch einen milchigen Schimmer auf ihren Pupillen zu erkennen, wie eine Blässe. »Ich hoffe, es trübt Ihnen nicht auch das Gemüt.«
Else lächelte. »Ganz und gar nicht.«
Wegener beschrieb ihr die Insel, so gut sie im Nebel zu erkennen war, doch Else fiel der Name nicht ein.
Sie setzten sich an den Rand der Böschung. Am Fuß des Deiches drängte sich eine Gruppe Schafe zum Schutz gegen den Wind so dicht aneinander, dass es aussah wie ein einziges flauschiges Tier. Wegener griff nach seinem Tabaksbeutel. Else ließ sich ins Gras sinken und schloss die Augen. Während Wegener die Pfeife in Gang brachte, sah er sie an. Ob sie es hinter ihren Lidern bemerkte?
Ihm war unerklärlich, wozu es solche Schönheit gab. Ihre Knöchel in den Sandalen, der sommerliche Rock mit dem Muster. Ihr Bauch lag vollkommen unbeweglich da, ganz flach, bis auf die paar Wellen, die ihre Bluse darüber schlug. Kein Zeichen von Atmung. Musste er schauen, ob sie noch am Leben war?
Auch ihm war danach, neues Land zu gewinnen. Bislang hatte er von diesen Büstenhaltern nur gehört, die neuerdings das Korsett ablösten. Ganz offenbar trug sie ein solches Modell. Ihr Hals gefiel ihm. Wie zart und weiß die Haut dort war. Ihre Wimpern, die in der Brise zitterten, als müsste sie sich anstrengen, die Augen geschlossen zu halten.
Um dem Schwindel etwas entgegenzusetzen, der auf einmal Besitz von ihm ergriff, versuchte Wegener zu überschlagen, wie viele Haare ein Mensch besaß, indem er die
Zahl für einzelne Büschel ihrer Locken schätzte, wenigstens in einer Annäherung. Aber beim Versuch zu bestimmen, wie viele solcher Büschel sich auf diesem Kopf nun fanden, musste er ihr mit Blicken durch die Locken streichen, die ihn in alle Richtungen mit sich nahmen, so dass er jedes Mal durcheinanderkam.
Also ließ er sich einfach fallen und lag so neben ihr, die Augen geöffnet, über sich nichts als den leeren Himmel. Er musste schlucken und hoffte, Else würde es nicht hören. Nach einer
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