Alles Land - Roman
Was sie Salon nannten, war in Wahrheit kein Salon, sondern die Diele. Es war zu eng hier drin. Sooft es ihm möglich war, verschwand Wegener daher in die Institutsbibliothek über der Lahn, während Else sich mit etwas Handarbeit zurückzog.
Sie hegte den Plan, sich als Putzmacherin im Nebenerwerb zu verdingen, ihre im Ausland erworbenen Kenntnisse sollten ihr dabei helfen. Anfangs erhob Wegener Einwände, dann sah er ein, dass es dabei helfen könnte,
ihr schmales eheliches Budget ein wenig aufzubessern. Die winzige Wohnung in der Biegenstraße besaß neben ihrer Schlafstube eine kleine Kammer, die die dicke Vermieterin beharrlich »Kinderzimmer« nannte. Else begann sich eine kleine Werkstatt darin einzurichten. Zur Hochzeit hatte es von den Schwiegereltern ein Nähkästchen gegeben, die ersten Bahnen Stoff, eine Auswahl Straußenfedern sowie Schleier kaufte Wegener von seinen Ersparnissen. Für die zwei Dutzend Garnrollen hatte er eine Halterung an die Wand über ihrem Tischchen genagelt. Jetzt leuchteten die Spulen in allen Farben, manchmal steckte Else sie um, und jedes Mal ergab sich ein nie gesehenes Bild.
Ihren begrenzten Möglichkeiten zum Trotz gelang es ihnen, sich ihr Leben abwechslungsreich einzurichten. An den Wochenenden fuhren sie mit den Schlittschuhen auf den überfrorenen Lahnwiesen oder stapften durch den Schnee hinauf zur Amöneburg. Manchmal nahmen sie den Zug ins Sauerland und wanderten mit ihren Skiern über die verschneiten Hänge. Wie mit den Bewegungen seine Erinnerung wiederkehrte. Wenn sie sich mit schnellen Stößen ihrer Stöcke in Fahrt brachten, dachte er an den hoffnungsfrohen Aufbruch am Beginn der grönländischen Durchquerung. Sobald aber Else neben ihm langsamer wurde und das Gleiten überging in ein mühseliges Schlurfen, spürte Wegener wieder die Erschöpfung am Ende der Reise, das Gefühl, ausgeliefert zu sein und verloren.
Im März 1914 wurde Wegener zu einer Militärübung eingezogen. In enge Bänke gedrängt studierten die Offiziersanwärter die Kunst der Kriegslist. Clausewitz schrieb, die Schlacht sei unkalkulierbar. Solange der Gegner nicht bezwungen war, konnte man selbst bezwungen werden. Wegener lernte: Krieg war eine Frage der Entschlossenheit. Wenn niemand wusste, wie entschlossen der Gegner war, galt es, sich so entschlossen wie möglich zu zeigen. Das leuchtete ihm ein.
Nach den Lektionen ließ man sie stundenlang über abgeerntete Kartoffeläcker laufen, stumm standen sie in Kolonne an einem Waldrand, duckten sich bewegungslos im Schutz eines Erdwalls. Wenn die Einheit taub vom Schießen auf die Stube zurückkehrte, hockte jeder auf der Kante seines Feldbettes, das Kinn in die Hände gestützt. Die Gesichter seiner Kombattanten waren blass unter dem Schmutz.
Als er nach einigen Wochen heimkehrte, hing ein neues Schild am Tor: Else Wegener. Hutmoden und Kopfschmuck en détail , weiße Schrift auf ochsenblutrotem Grund. Sie hatte es mit eigenen Händen angebracht.
Anfangs kamen die Kunden vor allem, um sich Wimpel in den Landesfarben an ihre Kappen und Jackenaufschläge nähen zu lassen – nicht eigentlich Elses Profession, und für gerade mal zwei Pfennige schien es Wegener ein so unlukratives Geschäft, dass er sorgenvoll riet, die Finger davonzulassen. Aber es ging so schnell von der Hand, dass sich die patriotische Leidenschaft der Klientel bald bezahlt machte. Wenige Wochen nach Eröffnung ihres Gewerbes konnte Else die erste Rate für eine gebrauchte
Nähmaschine zahlen, eine silberfarbene Opel, versenkbar, mit Schwingschiff.
Dann begannen die Zeitungsjungen lauter zu rufen, die Schlagzeilen wurden kürzer, und auf den Plätzen versammelte man junge Männer. Aus der Beute der Walfänger wurde keine Seife mehr gefertigt, sondern Nitroglycerin.
Auch Wegener bekam die Einberufung zugestellt. Else begleitete ihn zum Bahnhof. Es war August, erst beim Anblick der anderen Soldaten knöpfte Wegener seine Uniformjacke zu. Dann küsste er Else auf die Stirn und strich ihr über den Bauch. Auf den Bahnsteig durfte sie nicht mit.
Als er sich beim Einsteigen nach ihr umwandte, stand sie noch immer dort an der Sperre. Unter ihrem hellen Sommerhütchen sah sie aus wie ein kleines, dickes Kind. Sie war im neunten Monat.
Die Fahrt führte ihn über Kassel nach Apolda, wo sich sein Regiment sammelte, dann ging es weiter nach Belgien. Die schiefergedeckten Kirchen, der flache Horizont. Die Feldpost funktionierte noch nicht bei dem raschen Vormarsch. Im
Weitere Kostenlose Bücher