Alles Land - Roman
ärgerlich die Stirn wie auf seiner Bronzeplatte im Senckenbergischen Museum. Wegener konnte es nicht
hören, aber er las jetzt auf den Lippen seiner Begleiter, dass sie etwas riefen. Gib dich nicht auf. Du willst am Leben bleiben. Er war sich nicht sicher, ob sie recht damit hatten, aber er beschloss, ihnen zu glauben.
Und so lehnte sich auch sein eigenes Inneres auf gegen die Aussicht, dass dies seine Stunde war und sein Ort.
Er führte seine Kameraden die paar Schritte zurück zu ihrem Unterstand, wo sie Gloë schlachteten. Seit siebenunddreißig Stunden hatten sie nicht gegessen. Es war nicht leicht, das Messer anzusetzen. Gloës verständnisloser Blick, als die Klinge in die Haut seines Halses drang. Es war die einzige Hoffnung, die ihnen blieb.
Sie hatten fast die Hälfte seines Fleisches gekocht und waren gerade dabei, die Portionen zu verteilen, als Wegener unter ihnen auf dem Fjord ein Segelboot entdeckte. Die Entfernung war recht groß, und er hätte es wohl für eine Eisscholle gehalten, wenn die schnelle Bewegung ihn nicht stutzig gemacht hätte.
Ein Blick durchs Fernrohr belehrte sie, dass es wahrhaftig ein Boot war, und sofort begannen sie sich durch Rufen und Schwenken des Segels bemerkbar zu machen. Zu ihrer Freude drehte das Boot bei und steuerte auf ihr Ufer zu. Wegener half Koch auf die Beine, dann begannen beide sofort abzusteigen, ohne noch die gemeinsame Mahlzeit abzuwarten. Nur einen Becher voll mit dem heißen, sehnigen Fleisch nahm jeder von ihnen mit, das sie während des Abstiegs in aller Hast vertilgten. Bald sahen sie auch Vigfus und Larsen über sich im Hang, die ihnen rasch folgten.
Eine mächtige Spannung hatte sie alle ergriffen, dieselben Menschen, die eben noch kaum die Beine hatten heben können, sprangen jetzt von Stein zu Stein ihren Rettern entgegen. Wie Tiere, die hineingehörten in diese Welt aus Fels, Geröll und Abgrund.
Erst als sie die Eskimos erreichten, die ihnen auf dem steilen Abhang entgegenstiegen, kam Ruhe über Wegener. Wie langsam ihre Umrisse klarer wurden, die Zeichnung ihrer Kapuzen, die Gesichter, am Ende ihre schmalen Augen, erfreut über das Zusammentreffen, ohne wohl zu wissen, wem sie hier in diesem Abhang begegneten.
Es zeigte sich, dass ihr Retter der Pastor Chemnitz aus Upernivik war, der als Letzter heraufkeuchte. Er war unterwegs gewesen, um Konfirmanden zu sammeln. Gleich erbot er sich, sie nach Pröven zu bringen, und als er hörte, in welchem Zustand sie sich befanden, ließ er ein Frühstück aus Schwarzbrot, Alkeneiern und Kaffee herrichten. Die Eskimos schenkten ihre Kapuzenjacken her und boten freigebig von ihrem Tabak, und die Geretteten waren vom Umschwung der Verhältnisse so überwältigt, dass es ihnen kaum gelang, der liebenswürdigen Unterhaltung des Pastors zu folgen.
Drei Stunden später fuhr ihr Schiff mit gehisster Flagge in den Hafen von Pröven ein und alarmierte die ganze Kolonie. Man hatte das Eintreffen der Expedition ja vor etlichen Wochen schon erwartet. Der beleibte Vorstand empfing sie vorn an der Brücke, sprang gleich an Bord und erdrückte sie fast mit seiner Begrüßung. Einer hinter dem anderen stiegen sie vorsichtig an Land wie nach
einer langen, langen Überfahrt. Und erst als Wegener, der als Letzter das Schiff verließ, sich aus Gewohnheit noch einmal umsah, fiel ihm wieder ein, dass ihr Hund nicht mehr bei ihnen war.
Vervielfältigung des Schalls
Nach seiner Rückkehr wurde Else geheiratet. Das war es ja, worauf er gewartet hatte. Im August 1913 war sie nach Zechlinerhütte gefahren, um bei den Eltern ihres Verlobten zu sein, wenn das erste Postschiff die Nachricht brachte, ob die Durchquerung gelungen war. Sie selbst nahm das Telegramm entgegen und las es den Wegeners vor. Die stille Freude der Mutter, das Schweigen des Vaters. Und sie selbst? Erst nachts, in seinem Jugendzimmer unter dem Dach, kamen ihr die Tränen und nahmen gar kein Ende. Die langen Gespräche mit seinem Kopfkissen, in denen sie ihm alles sagte. Und er? Hatte geschwiegen, wie so oft.
Das Bild seiner stummen Mutter begleitete Else in den Schlaf. Anna Wegener hatte während der Abwesenheit ihres Sohnes einen Schlaganfall erlitten, sie war nun zur Hälfte gelähmt. Als Else das Telegramm aus Kopenhagen vorlas, hatte sich nur der eine Mundwinkel gehoben, fröhlich und leicht, während der andere ungerührt herunterhing.
Bald darauf traf endlich Wegener selber in Zechlinerhütte ein. Er war auf dem Weg zu einem Festessen
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