Alles Land - Roman
wieder verzog, kauerten sie sich zwischen die Rüben. Mit Hurra ging es ins Dorf. Wo sich in einem Gebüsch ein Franzose zeigte, knallte man ihn herunter. An ihren roten Hosen waren sie leicht zu erkennen. Die menschlichen Empfindungen nun fast gänzlich verdrängt.
Dann drang aus einer Hecke ein Schuss und noch einer, und auf einmal traf Wegener ein Schlag am Hals, dass er sich einmal um sich selber drehte. Er fragte sich, warum kein Blut zu fühlen war, und dachte noch, ihm sei nur ein Schuss auf den Kragen geschlagen. Er bat einen Kameraden
nachzusehen, ob etwas kaputt sei, und war ganz erstaunt, als der ihm eine Kugel aus dem Halse zog.
Im Lazarett, beim Warten auf den Rücktransport in die Heimat, las er in der Edda. »Brüder befehden sich und fällen einander, Geschwister sieht man die Sippe brechen, der eine schont des anderen nicht. Unerhörtes ereignet sich, großer Ehbruch. Beilalter, Schwertalter, Schilde krachen. Windzeit, Wolfszeit, eh die Welt zerstürzt.« Besser hätte er die Lage nicht beschreiben können.
Er bekam eine Karte von Else mit der Nachricht, das Geschäft ziehe nun wieder an. Vor allem Trauerhüte gebe es zu machen. Wegener sorgte sich, das viele Nähen im schwarzen Stoff sei schlecht für ihre Augen.
Schon im Januar war er wieder daheim. Wie fremd die Stadt vom Zugfenster aus dalag. Aus dem Bahnhof treten, die paar Stufen hinunter zur Hauptstraße und in den Spuren der Pferdebahn über den Fluss hinüber in die Stadt. Im Rinnstein dreckiger Schnee, es wurde schon dunkel. Auf Höhe der Elisabethkirche stand ein Alter und rief vor sich hin, eine Faust wütend in den Abendhimmel gereckt. Da erst begriff Wegener, was sich geändert hatte: Außer dem Alten und ihm selbst waren nur Frauen auf der Straße. Keine von ihnen beachtete den Greis.
Daheim unter dem Fenster stieß Wegener den Pfiff aus, den sie sich angewöhnt hatten. Gleich wurde im Treppenhaus
Licht gemacht, und Elses riesenhafter Schatten huschte über die Stiegenwände. Sie öffnete, ihr Kind vor der Brust. Es gelang ihm kaum, sie zu umarmen.
Hilde. Das Kind sah ihn mit riesigen Augen an. Wie einen Fremden, dachte Wegener. Ihr Kopf war mit rotem Schorf übersät. Er hätte sich gewünscht, seine Tochter würde beim ersten Treffen deutlichere Anzeichen von Freude zeigen. Und seine Mutter ebenfalls.
Dann stand er in der Küche, Else hatte ihm das Kind auf den Arm gegeben, während sie bei den Nachbarn um Kaffee fragte. Dabei sollte er mit seiner Verletzung ja nichts tragen. Sie hatten noch kaum ein Wort miteinander gesprochen.
Wenn er das Kind aufs Kanapee setzte, begann es zu weinen. Wenn er es hochhob, hörte es nicht auf, also bettete er es endlich zurück in die Wiege und gab ihm das Ende seines kleinen Fingers in den Mund.
Else blieb im Türrahmen stehen, als sie zurückkam, und sah zu ihm herüber. Auch er blieb, wie er war, halb über die Wiege gebeugt, den Finger im winzigen Mund seiner Tochter. Else sah ernst aus, beinahe verschreckt.
Nach dem Essen schrie Hilde ohne Unterlass. Als sie endlich zur Ruhe kam, schoben sie ihre Wiege hinüber in die Werkstatt. Else drehte sich von ihm ab, als sie ins Nachthemd schlüpfte. Dann lagen sie nebeneinander, Wegener noch in Uniform. Endlich griff Else nach seiner Hand. Er wollte etwas tun, darum strich er mit dem Daumen über ihren Handrücken, immer wieder.
»Was macht dich so schwer?«
Er verstand nicht, was sie meinte.
»Warum hast du nicht geschrieben?«
Sein Daumen verharrte im Streicheln. Was sollte er entgegnen ? Er hatte ihr ja schreiben wollen, so wie er nun antworten wollte, aber seine Gedanken jagten auf der Suche nach einer Erklärung auf und davon, sie verloren sich in immer weiterer Ferne wie ein spielendes Kind im Wald. Und als ihm nach einer Weile mit Schrecken aufging, dass er noch immer nichts entgegnet hatte, war an eine einfache Antwort längst nicht mehr zu denken.
Endlich merkte er, dass Else neben ihm eingeschlafen war, und überließ sich ebenfalls seiner Müdigkeit.
Nach seiner Verletzung wurde Wegener nicht mehr feld-und garnisonsdiensttauglich geschrieben. Er leide an chronischer Herzmuskelerkrankung und sei dauerhaft nicht in der Lage, körperliche Anstrengungen auch leichter Art zu ertragen.
Was er ebenfalls nicht mehr ertrug: die Erinnerung daran, was der Krieg ihm abverlangt hatte. Was im grellen Licht des Kampfes noch Selbstverständlichkeit gewesen war, erschien ihm nun, im milden Schimmer seines gewohnten Lebens, wie eine
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