Alles Land - Roman
Ungeheuerlichkeit. Wie hatte er, ein besonnener Herr mittleren Alters, sich so hinreißen lassen können? Er beschloss, sich nicht mehr daran zu erinnern. Es war abscheulich, was das Dasein in der Gruppe mit dem Menschen tat.
Wegener wurde zum Heereswetterdienst eingeteilt, ab und an musste er noch reisen, von einer Wetterwarte zur anderen.
Quer durch Deutschland ging es, mit einem kurzen Abstecher auf den Balkan, er sollte vorhersagen, wann es Zeit war für den Angriff und wann für die Verteidigung.
Die Mehrzahl seiner Tage aber verbrachte er in der Marburger Bibliothek. Er fühlte, dass nichts so dringend auf ihn wartete wie die Wissenschaft, erst recht, da es zu Hause nun wirklich eng geworden war.
Noch immer arbeitete Gertrud im Lesesaal, und noch immer stellte sie ihm dann und wann einen verbotenen Früchtetee an den Platz. Als sie flüsternd nach seinem Arbeitsgebiet fragte, gab er ebenso flüsternd zurück, er sei dabei, der Menschheit den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
Gertrud schaute verstört.
Er sagte: »Sie haben doch sicherlich schon einmal im späten Winter unten am Weidenhausener Wehr die Eisschollen gesehen, wie sie über das angestaute Wasser treiben.«
Gertrud nickte.
»Nicht anders«, fuhr Wegener fort, »treiben auch wir. Was wir Festländer nennen, sind nichts anderes als Schollen auf einem gewaltigen inneren Meer.«
Gertrud zog die Augenbrauen hoch und trug schweigend seine leere Tasse fort.
Im Austausch mit Köppen entwarf Wegener Karten weit vergangener Epochen, pauste durch, radierte, verschob und setzte zusammen, zeichnete neu und fügte am Ende noch uralte Wüsten, Dschungel und Vereisungen hinzu. Als er die Zugrichtungen längst geschmolzener Gletscher eintrug, deren Schleifspuren noch heute in den Fels graviert waren, sah er, dass sein Puzzle nur auf eine Weise und an
einem Ort zueinanderpassen konnte. Und plötzlich wurde unübersehbar, warum die Eiszeit von Perm und Karbon nur die Südhalbkugel getroffen hatte. Auf allen südlichen Landmassen fanden sich Schleifspuren riesiger Gletscher, deren Ausrichtungen genau dann zueinanderpassten, wenn man all die Kontinente vereinte – und zwar direkt über dem Pol.
Wegener blickte zur Decke der Bibliothek. Er triumphierte. Am liebsten hätte er seine Zeichnungen sogleich auf ein riesenhaftes Format vergrößert, als Standbild der Wahrheit. Er malte sich aus, wie es wäre, auf der Stelle sämtliche seiner Gegner zu einem Vortrag einzuladen, der ihnen allen miteinander die Sprache verschlug, einen Generalvortrag, um dem Geschwätz ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, dass die simple Eleganz seiner Skizzen einen Betrachter kaltlassen könnte.
Dann fielen ihm die Gesichter im Senckenbergischen Museum ein, die roten Wangen, die höhnenden Worte. Er konnte hören, wie sie sich auch hierüber lieber das Maul zerreißen würden, als die Bilder in Ruhe zu studieren. Er sah sie lachen und wünschte, ihnen den Hohn aus den Gesichtern zu vertreiben, mit welchen Mitteln auch immer. Nur allzu leicht geriet er bei der Erinnerung an diesen Moment noch immer in Rage. Aber er brauchte ruhiges Blut, wenn er etwas erreichen wollte. Das Wissen musste ein Können werden. Das war von Clausewitz. War die Akademie also doch zu etwas gut gewesen.
Er würde eine Kriegslist anwenden müssen. Die Vereinzelung. Er würde nicht auf die absolute Schlacht setzen können, auf die Niederwerfung an einem einzigen Tag. Er
musste auf eine Strategie der Ermattung setzen. Ein Buch schreiben, das wäre die Lösung. Jeder seiner Gegner müsste es allein lesen, daheim am Schreibtisch. Er würde Schritt für Schritt seine Argumentation vortragen, dem würden sie ohne die Macht ihrer Cliquen nichts entgegenzusetzen haben. Er musste sie einzeln bekommen, er war ja selber auch allein. Auf diese Weise würden sie nicht ausweichen können. Mann gegen Mann.
Ein ganzes Buch also. Eines, für das es keine Vorlage gab. Wegener musste schlucken. »Es ist im Kriege alles sehr einfach, aber das Einfache ist schwierig.« Wieder Clausewitz.
Es gab das Heidekraut, das sich außerhalb Europas nur in Neufundland und den daran angrenzenden Gebieten fand. Es gab ein Band mariner Zwischenschichten in Kohleflözen, das sich vom Flusstal des Donez durch Oberschlesien, das Ruhrrevier, Belgien und England bis in den Westen Nordamerikas zog. Und die Gartenschnecke gab es: in Süddeutschland, auf den Britischen Inseln, Island und
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