Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
Vom Netzwerk:
der Ferne, und
Wegener sah, dass sich all die schwarzen und weißen Pferde, Löwen und Kutschen niemals einholen würden. Beim Aufwachen fragte er sich, ob er jemals in Farbe geträumt hatte und wann das gewesen war, und konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern.
     
    Am Morgen des 15. Juli ging der Schneefall zu Ende. Auch dem Himmel waren endlich die Vorräte ausgegangen. Hin und wieder riss der Nebel auf, für Momente konnten sie unter sich den neuen Fjord erkennen – kalt und schwarz und glatt zeigte er sich im zerrissenen Bilderrahmen der Wolkenreste. Sie beschlossen aufzubrechen. Wegener überlegte, ein Wanderlied anzustimmen, aber es fiel ihm keines ein.
    Es mochten dreißig Meter sein, die sie von ihrer Hütte aufgestiegen waren, vielleicht zwanzig, vielleicht mehr, als einer nach dem anderen aufgab. Koch musste sich setzen und konnte sich sogar im Sitzen nicht gegen die Ohnmacht wehren. Wegener gab ihm Kampfertropfen, aber Koch konnte den Löffel nicht mehr sehen, so dass Wegener sie ihm schließlich direkt in den Mund träufeln musste. Koch sah ihn an dabei, doch Wegener war sich nicht sicher, ob er ihn erkannte.
    Er blieb neben Koch im Gras sitzen und hielt ihm die Hand, in der anderen steckte noch immer der Löffel. Wenn Wegener nicht hinsah, wusste er nicht, mit welcher Seite er den Löffel hielt und mit welcher Kochs kalte Finger.
     
    Das Entsetzen über die Erkenntnis, dass sie mit ihren Kräften am Ende waren. Mit unbarmherziger Geduld drang
es in sein Bewusstsein, wie Treibschnee durch die Fugen eines Zeltes.
     
    Es war ein mildes Entsetzen. Zu mehr reichte es nicht.
     
    Der Fjord lag nun klar vor ihnen, sie hätten hineinstürzen können.
     
    Woher sollte eine Kraft kommen, die ihnen erlaubt hätte weiterzugehen? Wegener wünschte sich das Karussell zurück, von dem er geträumt hatte. Er säße in einer der Kutschen, und sie brächte ihn hin, wohin immer er sich wünschte. Wenn er die Augen schloss, sah er wieder die Pferde, die in der Drehung vor- und zurückschaukelten. Es waren kleine Pferde, wie die, mit denen sie einmal unterwegs gewesen waren und die jetzt verstreut über das Land lagen, von Schnee bedeckt. Er hörte die Musik des Karussells nun ganz klar.
     
    Sie waren nicht imstande, ihren Weg fortzusetzen. Das also war der Tribut für die lange Rast, von der sie sich doch Stärkung erwartet hatten. Koch hatte sich unterdessen zur Seite fallen lassen, in einiger Entfernung erkannte Wegener Vigfus und Larsen, auch sie lagen hingestreckt auf dem felsigen Boden. Er selbst schien am wenigsten mitgenommen zu sein, der Himmel mochte wissen, warum. Wie er seine Kameraden so reglos daliegen sah, empörte sich alles in ihm. Ein Aufruhr seines Daseins, seiner Lebendigkeit, womöglich. Vielleicht auch nur seiner fehlenden Einsicht. Oder seiner Angst. Was hätte sein Vater getan? Gebetet? Und wenn er es ihm gleichtäte, es
kam ja nicht mehr darauf an? Wie würde Nansen an seiner statt handeln, der Held? Wüsste Vladimir Köppen, was in einer solchen Angelegenheit zu tun blieb? Wie war es Mylius-Erichsen gegangen, an diesem Moment seines Lebens? Wäre Suess stark genug, eine solche Herausforderung zu bestehen? Die Reifriesen auf ihrem Schiff mit dem seltsamen Namen, waren sie je in solche Not geraten? Der Kaiser? Else? Oder Kurt und die anderen Geschwister, hätten sie ihm helfen können?
    Else hätte ihn sicherlich am Arm gefasst und angesehen, wie sie es tat, mit unmerklich geneigtem Kopf durch ihre Wimpern hindurch, dass man niemals wusste, ob sie von unten blickte oder von der Seite. Seine Geschwister hätten ihn zumindest wärmen können. Und seine Mutter? Auf einmal sah Wegener sie alle um sich stehen, seinen Vater, Mylius-Erichsen, der stärker als je zuvor einem Troll ähnelte, die Reifriesen, vom Nebel verwischt, aber bei ihm. Er musste schlucken. Es tat gut, sie in der Nähe zu wissen. Er hatte Begleiter.
    Die Empörung, die nun in ihm wuchs. Sollten sie hier, am Schluss einer so langen und gefahrvollen Reise umkommen wie Tiere? Wohl keine zwei Meilen von der Kolonie entfernt? Im Julimonat? Lag darin auch nur eine Spur von Sinn? Wegener konnte sehen, dass auch seine nebelhaften Begleiter mit diesem Ausweg nicht einverstanden waren, weder die Lebenden noch die Toten. Wie wütend sie jetzt aussahen. Else hatte ihre kleinen Fäuste geballt. Als die Schar seiner Geschwister das sah, taten sie es ihr gleich. Einige der Reifriesen stampften mit den Füßen. Und Suess runzelte so

Weitere Kostenlose Bücher