Alles muss versteckt sein (German Edition)
auch die Wölkchen auf der Mauer nichts ändern, Markus ist zerbrochen. Welch ein Glück für die Menschen da draußen, der wird ihnen keine Scherereien mehr machen, der nicht, der ist fertig, für immer und ewig. Marie nimmt einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, schließt die Augen und lehnt sich gegen die Wand in ihrem Rücken.
Aber sie hat nur eine Sekunde Ruhe, schon wackelt die Bank, auf der sie sitzt, und Marie öffnet die Augen. Günther hat direkt neben ihr Platz genommen, immer noch läuft ihm die Nase, wieder sieht er sie so aggressiv an wie beim Mittagessen.
»Ich krieg noch ’ne Antwort von dir«, raunzt er. Diesmal ist kein Pfleger in Sicht, zwei der Betreuer sind auf der anderen Seite des Hofs miteinander ins Gespräch vertieft. Marie überlegt, was sie tun soll, damit Günther sie in Ruhe lässt. Jetzt sieht er lauernd aus, für den Bruchteil einer Sekunde bekommt sie Angst vor ihm.
»Willst du eine?«, fragt sie und hält ihm ihr Päckchen Zigaretten hin. Er grapscht sich eine Kippe, zündet sie aber nicht an, sondern mustert Marie weiterhin mit abwartender Miene. Er stinkt nach Pisse und altem Schweiß, sauer und zur gleichen Zeit süßlich und klebrig. Ein leichter Windstoß treibt ihr den Geruch direkt in die Nase, die Stationsmitarbeiter müssten dringend dafür sorgen, dass er mal wieder duscht. Aber meistens kümmern sie sich nicht darum, sondern halten sich lieber so fern wie möglich von ihm. Die paar Minuten bei der Blutabnahme, der Tablettenausgabe oder was sonst an pflegerischen Diensten nötig ist, kann man auch gut durch den Mund atmen.
»Was ist?«, schnauzt Günther. Jetzt läuft ihm der Rotz über die Lippen, er leckt ihn mit der Zungenspitze fort, Marie spürt wieder Übelkeit und einen Würgereiz in sich aufsteigen und will aufstehen, doch er hält sie mit einer schnellen Handbewegung fest, seine schwielige Pranke ruht schwer auf ihrem Arm. Die Hölle, das sind die anderen, Sartre. Patrick hat ihr einmal abends daraus vorgelesen, aus der »Geschlossenen Gesellschaft«, weil sie das Drama nicht kannte. Woher auch? Sie hat ja nur einen Realschulabschluss, und während ihrer Ausbildung als Erzieherin stand Literatur auch nicht gerade auf dem Plan.
»Alles muss versteckt sein«, flüstert Marie.
»Was?«
»Alles muss versteckt sein«, sagt Marie noch einmal lauter. Günther nimmt seine Hand weg, schüttelt den Kopf und steht auf. »Du bist ja irre.«
2
D er nächste Tag beginnt wie der davor. Und der davor und der davor und der davor. 6.45 Uhr Wecken, Duschen in den Gemeinschaftswaschräumen, Anziehen, 7.30 Uhr bis 8.00 Uhr Frühstück, danach Morgenrunde mit allen fünfzehn Patienten der Station im Gruppenraum, denn auch die Anwesenheit muss täglich kontrolliert werden (als könnte einer von ihnen nicht anwesend sein; wobei, einmal, vor Jahren, ist angeblich einer von Station 5 getürmt, eine Therapeutin hatte ihm dabei geholfen, nach ein paar Wochen hatten sie ihn wieder geschnappt und zurückgebracht; hat wohl auch einen gewissen Charme gehabt, diesen bösen, manipulativen Charme; aber der ist jetzt nicht mehr hier, der wird woanders mit höherer Sicherheitsstufe verwahrt). Dann Gruppentherapie oder Kunsttherapie oder Sporttherapie oder Arbeiten im Gewächshaus oder in der Wäscherei, für ein paar Cent pro Stunde Kugelschreiber oder Aktenordner zusammenbauen oder einfach stumpfsinnig auf dem Zimmer sitzen und vor sich hin starren. Einschluss um 21.00 Uhr, bis am nächsten Morgen um 6.45 Uhr die Türen erneut geöffnet werden.
Anfangs hatte Marie noch einen Kalender an der Wand, hat einen Tag nach dem nächsten durchgestrichen. Nach drei Wochen hat sie ihn abgehängt. Sie müsste wissen, wie alt sie wird, dann könnte sie die Tage rückwärts ausmerzen und ihrem Ende entgegenfiebern. Aber so hat es keinen Sinn, wozu soll sie wissen, welcher Tag, welcher Monat, welche Jahreszeit ist? Sie ist in einem Vakuum, alles steht, nichts bewegt sich mehr »hier drinnen«, nichts hat mehr eine Bedeutung, nichts von dem, was in der Welt »da draußen« einmal wichtig war, spielt noch eine Rolle. Das Adventsgesteck im Glaskasten am Anfang des Flurs, in dem die Schwestern und Pfleger sich aufhalten, weist darauf hin, dass bald Weihnachten ist. Das Fest der Liebe und der Familie, das ohne das eine oder andere nun wirklich überhaupt keinen Sinn hat.
Wieder sitzt Marie auf der Bank im Käfig, wieder hat Gertrud von ihr drei Zigaretten geschnorrt, nur Günther hält sich
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