Alles muss versteckt sein (German Edition)
Klinikkleidung, alle sehen aus, als würden sie in irgendeinem Büro arbeiten, vielleicht ein Versuch, gerade hier so etwas wie Normalität zu vermitteln. Vermutlich sollen die Patienten nicht jeden Tag daran denken, wo sie eigentlich sind.
»Darf ich?«, wiederholt Susanne ihre Frage und wirkt nicht mehr ganz so hoffnungsvoll, nachdem Dr. Falkenhagen ihr noch nicht geantwortet hat.
»Sie wissen doch, dass das nicht geht«, teilt er ihr nun, wie nicht anders zu erwarten, mit, auch sein Tonfall ein Muster an Nachsichtigkeit.
»Aber ich mache doch jetzt alles, was Sie wollen«, sagt Susanne, nun schon leicht bockig, ein bald folgendes Aufstampfen mit dem Fuß schwingt bereits deutlich mit.
»Ja, Frau Krüger, das weiß ich. Aber wir müssen einfach noch etwas länger warten, das verstehen Sie doch, oder?« Statt zu antworten, lässt Susanne die Glückwunschkarte achtlos auf den Boden fallen, marschiert aus dem Zimmer, wobei sie auf die Bastelarbeit tritt und sie zerknickt, dann knallt sie die Tür hinter sich ins Schloss. Ätsch, dann eben nicht! Der Arzt seufzt ein weiteres Mal. Dann wendet er sich an Marie.
»Und wie geht es Ihnen heute, Frau Neumann?« Wenigstens fragt er nicht, wie es »uns« geht.
»Alles in Ordnung«, lügt sie. »Danke«, schiebt sie dann noch hinterher, denn sie hat ja immerhin Erziehung genossen.
»Wollen Sie heute Nachmittag mit mir reden?« Jeden Tag fragt er sie das, jeden einzelnen Tag in den vergangenen zwei Monaten, die sie schon hier in Haus 20 auf Station 5 ist. Seit sie von der Aufnahme, von der Akutstation, hierher verlegt wurde, möchte er ständig mit ihr reden. Aber Marie will nicht und schüttelt wie immer den Kopf. Sie hat nichts zu sagen, denn die Vergangenheit ist unaussprechlich, die Zukunft nicht existent. Worüber dann reden? Reden ändert nichts an Taten.
Drei Mal hat sie in seinem Büro schon vor ihm gesessen, eine Stunde lang geschwiegen, seine Fragen unbeantwortet gelassen, bis sie wieder in ihr Zimmer durfte. Seitdem holt Dr. Falkenhagen sie nicht mehr, sondern fragt Marie täglich – außer am Wochenende, da ist keine Rede-, sondern Verwahrzeit – , ob sie ein Gespräch mit ihm führen will. Stetes Wasser höhlt den Stein , denkt er vielleicht, irgendwann wird sie es wollen. Soll er das denken. Sie hat Zeit. Alle Zeit der Welt in diesem zeitlosen Raum.
»Ich möchte bitte ein bisschen schlafen«, sagt Marie, als er sie noch immer abwartend ansieht.
»Dann lasse ich Sie allein. Denken Sie einfach darüber nach, Sie können jederzeit zu mir ins Büro kommen.« Er verlässt das Zimmer, Marie bleibt auf ihrem Bett sitzen und starrt vor sich hin. Nachdenken. Als hätte sie das nicht schon genug getan, seit Wochen, Monaten, Jahren tut sie nichts anderes. Nachdenken, Grübeln, Gedanken hin und her wälzen, ohne zu einer Lösung, zu einem Ergebnis zu kommen. Das ist alles nur in meinem Kopf, nur in meinem Kopf.
Marie steht auf, geht rüber zu dem kleinen Waschbecken, das sie sich mit Susanne teilt, lässt kühles Wasser über die Innenseiten ihrer Handgelenke laufen, trocknet sie mit einem Handtuch ab und betrachtet sich dann im Spiegel. Ein richtiger Spiegel ist es natürlich nicht, das wäre viel zu gefährlich, blank poliertes Metall reflektiert Maries Gesicht, diesen Kopf, in dem alles ist.
Grüne Augen, links und rechts davon feine Krähenfüße, nichts Ungewöhnliches für ihr Alter von achtunddreißig, die blonden Locken in einem losen Zopf versteckt, der Mund klein mit dennoch vollen Lippen. Eine ganze normale Frau, eine, wie man sie an jeder Ecke trifft. Marie kneift die Augen zusammen und beugt sich näher zu ihrem Spiegelbild, so nah, dass sie nur noch ihre eigenen Augen sieht. Das Grün der Iris ist beinahe Neonfarben, umrundet von einem schwarzen Ring, die Pupillen flackern leicht, weiten sich unmerklich und ziehen sich wieder zusammen, pulsieren im Rhythmus ihres Herzschlags. Tadamm, tadamm, tadamm, ruhig und beständig.
Sie tritt zwei Schritte zurück, um sich ganz anzusehen, ihre schmalen Schultern, der zierliche Oberkörper, der in einem viel zu großen Sweatshirt steckt, das ihr irgendwann – das war in einer anderen Zeitrechnung – mal gepasst hat. Schon will sie wieder zum Bett gehen, als draußen im Flur ein ohrenbetäubender Lärm erklingt. Schreie, Poltern, eilige Schritte, ein dumpfes Geräusch, als würde jemand fallen. Marie geht zur Zimmertür und sieht hinaus.
»Lasst mich los!«, brüllt Susanne und kämpft mit zwei Pflegern, die
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