Alles muss versteckt sein (German Edition)
sonst machen außer rumsitzen und rauchen?
Eine kleine Ablenkung, ein Zeitverkürzer sind diese Zigaretten, so lässt sich das Leben in Einheiten aufteilen. Jede Kippe hat vierzehn Züge, die Marie alle einzeln mitzählt, fast andächtig raucht sie, wie bei einem heiligen Ritual. Etwa siebeneinhalb Minuten pro Stück, macht bei einer Stunde Hofgang acht Zigaretten, wenn sie sich eine nach der nächsten anzündet. Und das tut sie, sobald Marie eine Kippe austritt, greift sie für die nächste schon wieder zum Feuerzeug. Auch das muss sie immer wieder bei den Pflegern holen und abgeben.
Sie tritt Zigarette Nummer vier aus und entzündet die fünfte. Darum wird Marie beneidet, dass sie sich so viele Zigaretten leisten kann, wie sie will, im Gegensatz zu den anderen wird ihr wöchentlich ein kleines Vermögen von ihrem Geld zugeteilt. Die meisten hier sind arbeitslos, vom Leben schon lange aussortiert, ins Abseits geschoben, bevor sie im Maßregelvollzug endeten. Ein ständiges Streiten um Kippen, das ist eines der Hauptthemen hier auf der Station. Und wer über das Fernsehprogramm bestimmen darf, denn es gibt nur ein einziges Gemeinschaftsgerät. Genau wie das Telefon im Flur, wer überhaupt noch jemanden hat, den er anrufen kann, tut es gern und oft, der Apparat ist meistens belegt. Doch bei Telefon und Fernsehprogramm können die Patienten sich meistens einigen, um Zigaretten herrscht dagegen oft ein regelrechter Krieg. Einige erhalten hin und wieder einen Beutel Sozialtabak, mit fünfunddreißig Euro im Monat kommt man eben nicht weit.
»Gibst du mir eine?« Wie in jeder Freistunde kommt Gertrud zur ihr und schnorrt. Marie hält ihr die Packung West Silver hin. »Aktive«, so heißen fertige Filterzigaretten hier, ein echter Luxus für die meisten, die sich ihre Glimmstängel mit Tabak selbst drehen. Gertrud zieht drei Zigaretten heraus und geht schnell davon. Marie blickt ihr nach, wie sie in gebückter Haltung, als wolle sie einen Schatz hüten, auf die andere Seite des Innenhofs eilt, sich in eine windgeschützte Ecke stellt, die erste Kippe entzündet, den Rauch tief inhaliert und dann in kleinen Ringen in die Luft pustet.
Die kreisförmigen Schwaden lösen sich auf, werden vom Wind zerstoben und wabern an der Betonmauer entlang nach oben. Sechs Meter hoch sind die Wände des Hofs, oben auf der Kante sind sie mit Stacheldrahtrollen und Glasscherben gesichert. Und sie sind bemalt. Mit blauem Himmel und Wolken, ein Illusionskünstler hat sich an dem nackten Beton zu schaffen gemacht. Als würde ein bisschen Farbe reichen, um sie alle hier zu verarschen. Arsch sagt man nicht! , erklingt eine Kinderstimme in Maries Kopf, keine Halluzination, mehr eine Erinnerung. »Ich weiß«, erwidert sie leise. »Ich weiß.«
Ihr Blick wandert zu Markus, mit Mitte zwanzig einer der jüngsten Männer in der Forensik. Allerdings ist er nicht auf ihrer Station, nur hin und wieder darf er mit zwei Pflegern in den Käfig von Haus 20, weil es dort, wo er untergebracht ist, nicht mal einen Innenhof gibt. Sein Oberkörper pendelt in langsamem Rhythmus vor und zurück, Markus »webt« wie ein eingesperrtes Pferd. Direkt nach ihrer Stationsaufnahme hat Susanne Marie vor dem gelegentlichen Gast im Innenhof gewarnt. Ein Frauenmörder sei er, ein gemeiner Psychopath ohne jede Gefühlsregung, was er aber mit seinem Charme überspielen könne.
Gefährlicher Charme, dem seien mehr als zehn Frauen zum Opfer gefallen, die er erst zum Essen ausgeführt und danach in einem Wald brutal vergewaltigt und erdrosselt hatte. Die Köpfe seiner Leichen hätten sie bei ihm zu Hause in einer Tiefkühltruhe gefunden, hat Susanne behauptet und dabei so verächtlich geguckt, als sei sie nicht selbst eine Mörderin. Wenn auch ohne den Charme von Markus, ihre Kinder hatten ihr auch so vertraut, wie Kinder eben einer Mutter vertrauen können. Können sollten, denkt Marie und betrachtet die Zigarette in ihrer Hand, die schon wieder bis auf den Filter runtergebrannt ist. Und als Nächstes denkt sie: zu spät. Dann tritt sie die Kippe aus, zündet die nächste an und sieht wieder rüber zu Markus, dem charmanten Frauenmörder.
Jetzt, wie er da so auf dem feuchten Rasen hockt, von zwei Aufpassern bewacht, die aschblonden, fettigen Haare wirr vom Kopf abstehend, Trainingsjacke und Jeans unordentlich und schmutzig, stumm vor sich hinstarrend und webend, ist von seinem angeblichen Charme nichts mehr zu erkennen. Hospitalismus, psychische Deprivation, daran können
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