Alles muss versteckt sein (German Edition)
aufsteigen. Aber sie hat schon zu viele davon vergossen und unterdrückt den Drang, hemmungslos zu weinen.
»Marie.« Die Stimme des Arztes klingt sanft, beruhigend, als er sie bei ihrem Vornamen nennt. Fast zärtlich berührt er ihre Hände. »Wir sind doch erst ganz am Anfang, haben Sie Geduld! Zusammen werden wir es herausfinden.«
»Ich bin kein Monster«, wiederholt sie trotzig. »Das bin ich nicht!« Wie eine Beschwörungsformel möchte sie das wieder und wieder sagen, so lange, bis es endlich wahr wird!
»Nein, das sind Sie nicht, ganz sicher nicht.« Wieder ein Lächeln, diesmal ein ermutigendes, er nimmt sogar seine Brille ab und legt sie auf den Tisch, sodass sie zum ersten Mal seine braunen Augen ohne das geschliffene Glas dazwischen sieht, das sie und die anderen Patienten unmerklich auf Distanz hält. Groß und warm sind sie, so unglaublich warm, wie ein weicher Mantel, in den man sich nur hüllen muss, dann kann selbst die eisigste Kälte einem nichts mehr anhaben. »Ich habe Sie beobachtet, seit Sie hier sind. Und bisher haben Sie keinerlei Anzeichen von Aggressionen gezeigt.«
»Vielleicht bin ich es ja doch gar nicht gewesen?« Die Frage schießt ihr durch den Kopf und ist schon heraus, kaum dass Marie bewusst wird, dass sie sie formuliert hat. »Vielleicht habe ich Patrick gar nicht getötet?«
Der Arzt sieht sie fast traurig an. »Doch, Marie, das haben Sie. Es tut mir leid, ich würde Ihnen gern etwas anderes sagen, aber das kann ich nicht.«
»Was soll das dann alles hier?«, fährt sie ihn an und entzieht ihm ihre Hände. »Wozu das Reden, Reden, Reden, wenn es doch nichts ändert? Warum sperrt ihr mich nicht einfach weg und schmeißt den Schlüssel fort, das wäre doch viel einfacher?«
»Weil ich glaube, dass ich Ihnen helfen kann. Und es geht doch um Ihre Zukunft!«
»Von welcher Zukunft reden Sie? Selbst wenn ich jemals aus dieser Anstalt hier rauskomme – was erwartet mich denn da draußen? Was? Sagen Sie mir nur einen einzigen Grund, weshalb ich lieber frei sein sollte als hier in dieser Klinik .«
»Sie haben doch geliebt«, erinnert er Marie. »Sie haben Patrick geliebt. Wollen Sie das nicht noch einmal erleben? Sie sind doch noch jung!«
»Alles, was ich liebe, stirbt! Durch mich!«
»Nein«, sagt er. »Ich habe Ihnen doch schon mehrfach gesagt, dass nicht die Zwangsgedanken Sie zur Mörderin gemacht haben. Und selbst wenn man den Zwang vielleicht nicht ganz heilen kann, können Sie trotzdem lernen, damit zu leben. Und ich bin fest davon überzeugt, dass Sie das können!« Fest davon überzeugt. Die Worte treffen sie im Innersten. Genau so überzeugt war Elli. Und Marie hatte ihr geglaubt. Jetzt kann sie niemandem mehr glauben.
»Denken Sie?«, fragt sie trotzdem. Er nickt. Obwohl es nur eine kleine Geste ist, ein Nichts, völlig unbedeutend und banal, reicht es aus, um wieder eine kleine Hoffnung in ihr zu schüren. Die Hoffnung darauf, dass vielleicht doch nicht alles verloren ist. »Aber wie?«
»Erzählen Sie weiter. Erzählen Sie mir, was als Nächstes passiert ist. Von Elli. Und von Patrick. Wie haben Sie ihn kennengelernt, wie ist alles weitergegangen?«
»Da.« Das aufgeschlagene Tagebuch, das vor ihr liegt, sie schiebt es zu ihm rüber. Er darf es lesen, er soll es lesen. »Hier steht alles drin.«
7
Donnerstag, 10. Mai
Zum ersten Mal seit Wochen sieht mein Leben nicht mehr ganz so hoffnungslos aus wie bisher. Ich kann kaum glauben, wie sehr Elli mir dabei hilft, mich wieder zurechtzufinden und neuen Mut zu fassen, dabei tauschen wir uns erst seit fünf Tagen miteinander aus! Es kommt mir fast vor, als wäre sie mir vom Himmel geschickt worden. Aber wo soll jemand, der dich aus der Hölle befreit, sonst herkommen? Für mich ist sie wirklich ein Engel, genau so empfinde ich sie. Ein Engel, der alles versteht, was ich schreibe, selbst wenn es teilweise so schlimm ist, dass ich mich kaum traue, es zu formulieren. Elli muss ich nichts erklären, sie kennt das ja alles, hat die Verzweiflung und das Entsetzen am eigenen Leib gespürt. Es tut so unglaublich gut, sich das von der Seele zu schreiben!
Heute Morgen war ich sogar im Supermarkt und habe in Ruhe eingekauft. Natürlich hatte ich dabei wieder diese grässlichen Gedanken, erst gegenüber der Verkäuferin an der Käsetheke, die ich wüst beschimpfen wollte, als sie mir aus Versehen Leerdammer statt Edamer eingepackt hatte; dann, als ich über zehn Minuten in der Warteschlange an der Kasse stehen musste. Aber
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