Alles muss versteckt sein (German Edition)
ich habe mir die ganze Zeit gesagt: »Denken ist nicht tun!« So, wie Elli es mir geraten hat. Sie hat mir erklärt, dass ich einfach lernen muss, dass es nur Gedanken sind, nichts weiter. Und dass sie vorüberziehen, wenn ich es lange genug in der Situation aushalte und nicht weglaufe, dass sie verschwinden, ich brauche nur ein bisschen Geduld. Und sie hatte recht, als ich endlich bezahlen konnte, war ich innerlich ganz ruhig, keine Spur mehr von den Aggressionen in mir.
Danke, Elli!
Samstag, 12. Mai
Ja, ja, Geduld! Es zum Aus-der-Haut-Fahren! Oder zum Wahnsinnigwerden – wenn ich das nicht schon wäre! Ganze vier Stunden lang habe ich gestern Vormittag rumtelefoniert, weil ich im Forum gelesen habe, dass eine Verhaltenstherapie in meinem Fall vielleicht helfen kann. Und dass man damit so schnell wie möglich anfangen soll, weil die Chance, den Zwang doch wieder ganz loszuwerden, umso größer ist, je früher man etwas dagegen tut.
Aber erst mal einen Therapeuten finden! Eine Telefonansage nach der nächsten habe ich mir angehört, und wenn jemand ans Telefon ging, hieß es entweder »Tut mir leid, ich bin komplett ausgebucht« oder »Mindestens ein halbes Jahr Wartezeit, eher ein Jahr«. EIN – GANZES – JAHR ! Wenn ich es noch ein Jahr allein schaffe, brauche ich auch keinen Therapeuten mehr! Denn dann geht es mir entweder besser, oder ich habe mir schon einen Strick gekauft.
Wie kann das sein, dass einem nicht geholfen wird, wenn man in echter Not ist? Hätte ich mir ein Bein gebrochen oder hätte ich Krebs – würde es dann auch heißen »Sorry, kommen Sie in einem Jahr wieder«? Nur weil man meine Krankheit nicht sieht, kann ich sie nicht sofort behandeln lassen? Und was, wenn doch irgendwann etwas passiert? Wenn ich einfach losziehe und jemanden umbringe, sage ich dann hinterher: Tut mir leid, ich wollte das nicht, aber die Psychologen hatten erst in einem Jahr Zeit für mich???
Elli meint, ich soll mich nicht aufregen, sie würde mir helfen, dann ginge es schon. Aber gerade bin ich wieder ziemlich mutlos. Wie kann es sein, dass es so viele Menschen wie mich gibt – und keiner hilft ihnen? Vielleicht muss ich doch erst etwas Schlimmes tun … Irgendwie muss ich gerade an Amokläufer denken, die ausflippen und alles abknallen, was ihnen vor die Flinte kommt. Da heißt es dann hinterher von irgendwelchen erschütterten Nachbarn immer: »Er war nach außen so ein netter, ruhiger Kerl, das hätten wir nie gedacht«. Kann eben niemand wissen, was in Wahrheit hinter der Fassade steckt. Und vielleicht hat der Todesschütze ja vorher auch Hilfe gesucht, hat darum gebettelt, dass man sich um ihn kümmert. Und als man ihm »Kommen Sie in einem Jahr wieder« geantwortet hat, hat er sich halt lieber seine Knarre geschnappt und ist losmarschiert …
Montag, 14. Mai
O mein Gott, das Wochenende war schrecklich! Aber ich bin auch selbst schuld, ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen! Gestern war im Kindergarten unser Frühlingsfest, und Jennifer hat mich schon letzte Woche gefragt, ob ich nicht auch kommen will. Wäre ich nur zu Hause geblieben! Aber Elli meinte, ich solle ruhig hingehen, mir immer wieder das mit den Gedanken und dem Tun sagen, dann würde es schon gut gehen. Sie hat gesagt, dass es falsch ist, mich von dem fernzuhalten, vor dem ich Angst habe, ich soll mich solchen Situationen erst recht aussetzen. Expositionstherapie würde das heißen, das könnte sogar helfen.
Es endete damit, dass die Kleinen sich so sehr darüber freuten, mich zu sehen, dass sie sich alle auf einmal auf mich gestürzt haben und auf mir rumturnten. Und natürlich habe ich sofort wieder die schlimmsten Fantasien bekommen, habe in Gedanken um mich geschlagen und die Kinder getreten, ein regelrechter Blutrausch war das in meinem Kopf, ich habe gezittert und geknurrt, mir ist der Schweiß ausgebrochen, und ich hatte Herzrasen. Da konnte ich mir noch so oft sagen, dass Denken nicht Tun ist und dass das hier doch nur meine Expositionstherapie ist, es half einfach nichts, es wurde so schlimm, dass ich mal wieder einfach weggerannt bin.
Klar haben das auch meine Kollegen und vor allem die Eltern der Kinder mitgekriegt, die denken jetzt alle, dass ich wirklich verrückt bin. Jennifer hat mir gestern Abend noch auf den Anrufbeantworter gesprochen, ob es mir gut geht, dass sie sich Sorgen macht und ich sie doch mal anrufen soll. Natürlich habe ich nicht zurückgerufen. Vom Kindergarten halte ich mich erst einmal fern, so
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