Alles muss versteckt sein (German Edition)
umgelegte Schalter, der Startschuss für ein jahreslanges Gedankenmartyrium. Was, wenn er sie absichtlich berühren würde? Wenn er einfach so ihre Brüste streicheln, ihr zwischen die Beine fassen würde, ohne jede Vorwarnung, so schnell, dass sie es gar nicht verhindern könnte?
Der Damm war gebrochen, die Vorstellungen breiteten sich weiter aus, streuten wie aggressive Krebszellen in Roberts Hirn, in rasender Geschwindigkeit, unaufhaltsam und unkontrollierbar, im Gegenteil, je mehr Robert versuchte, seine Gedanken zu beherrschen, desto schlimmer wurden sie. Bald schon konnte er sich keiner Frau mehr nähern ohne die Angst oder den inneren Drang, sie unsittlich zu berühren, obwohl er es gar nicht wollte. Ständig Panik davor, sie »Schlampe« zu nennen oder »Fotze« oder sie dazu aufzufordern, ihm ihre »Muschi« zu zeigen.
Er könne es einfach nicht mehr aushalten. Ein paar Wochen vielleicht noch bei seinen Eltern, die von nichts wussten, sondern nur hilflos dabei zusahen, wie ihr Sohn sich mehr und mehr von der Außenwelt abschottete. Ja, ein paar Wochen noch, vielleicht sogar Monate würde er das ertragen und sich in seinem Kinderzimmer verkriechen. Aber irgendwann würde er sich vor einen Zug werfen oder aus dem Fenster springen oder irgendetwas anderes tun, damit dieser Kobold, der da in seinem Schädel tobte, endlich Ruhe geben würde.
Ich las Geschichten von Menschen, die seltsame Rituale einhalten mussten, um damit ein Unglück im Freundeskreis zu verhindern oder die an anderen eigenartigen »Marotten« litten: nicht mehr an Friedhöfen vorbeigehen, keine Knöpfe anfassen oder auch nur aus Versehen berühren, vor jeder Mahlzeit bis fünfzehn zählen, hundert Mal am Tag die Hände waschen, beim Fahren auf der Autobahn alle drei Minuten drei Mal blinzeln, Angst vor runden, eckigen oder kreuzförmigen Gegenständen haben, nichts Gelbes mehr essen, Namen mit mehr als zwei »A« nicht aussprechen oder auch nur daran denken dürfen, nicht auf die Fugen zwischen Steinplatten treten, niemals links um eine Ecke gehen, von rechts ganz zu schweigen, an ungeraden Tagen nicht duschen, an geraden kein Geld ausgeben …
Und dann stolperte ich über einen Bericht, der mich beinahe vollends aus der Fassung brachte. Denn wenn diese Geschichte auch nicht meine war – sie hätte meine sein können . Geschrieben von Monika, die ihren eigenen Sohn Finn nicht versorgen kann, weil sie ständig fürchtet, ihm etwas anzutun. Ihn beim Wickeln vom Tisch stoßen, ihn beim Spaziergang aus dem Kinderwagen holen und in einen Bach werfen, seinen Brei vergiften.
»Hilfe«, flüsterte ich immer wieder leise vor mich hin, während ich all diese schrecklichen Geschichten, diese unwirklichen Schilderungen las. »Hilfe!«
Doch Hilfe – die schienen die meisten hier vergeblich zu suchen. Jahrelang schon wurden sie gequält von ihrem eigenen Kopf, begaben sich auf eine Odyssee von Therapeut zu Therapeut, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Im Großteil weniger, jeder Versuch meist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, der manchmal etwas Linderung verschaffte, häufig aber nur von einem Zwang schnurstracks in den nächsten führte.
War das meine Zukunft? War das das Leben, das ich fortan führen würde? Als Teil einer Freakshow, die sich im Internet versammelte? Eine Aussätzige, unfähig, jemals wieder ein normaler Mensch zu sein? Ich schloss die Augen, rieb sie mir mit beiden Händen, öffnete sie erneut, starrte minutenlang bewegungslos auf den Bildschirm vor mir, bis die Buchstaben vor meinen Augen tanzten und verschwammen.
Und dann schrieb ich einfach los. Meldete mich im Forum an, um einen eigenen Eintrag zu verfassen, nannte mich » Helena HH « und schrieb mir in ihrem Namen meine Ängste und Sorgen von der Seele. Als ich fertig war, begann ich zu weinen und schaltete den Computer aus.
Eine ganze Woche dauerte es, bis ich mich traute, mich wieder vor den PC zu setzen und nachzusehen, ob es auf meinen Beitrag irgendwelche Reaktionen gab. Halb hoffnungsvoll, hab panisch kehrte ich zurück ins Forum, fast befürchtend, dort von den anderen als verrückt oder pervers beschimpft zu werden.
Aber da waren keine Beschimpfungen. Ehrlich gesagt waren da nur ein paar belanglose Kommentare zu dem, was ich geschrieben hatte, etwas wie »ich drück dich« mit einem Knuddelsmiley oder »das kenne ich«, aber nichts, was mir hilfreich erschien, nur verzweifelte und ebenfalls ratlose Anmerkungen. Dann allerdings entdeckte ich eine neue
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