Alles muss versteckt sein (German Edition)
Nachricht in meinem privaten Postfach. Ich las die Betreffzeile: »Denken ist nicht tun!« Wenige Worte – aber doch gleichzeitig so unendlich viel.
»Das war eine Nachricht von Elli?« Dr. Jan Falkenhagen, der jetzt wieder mit Marie in seinem Büro sitzt und dem gegenüber sie wiederholt, was sie Hannah letzte Nacht bereits anvertraut hat, sieht interessiert von seinen Notizen auf.
»Ja.« Marie nickt. »Diese Mail hatte Elli geschrieben, so habe ich sie kennengelernt.«
»Sie haben ihren Namen schon oft erwähnt, aber noch nie etwas über sie erzählt. Ich bin neugierig!«
»Elli war meine einzige Freundin zu dieser Zeit. Das heißt, eigentlich ist sie es bis heute. Nur dass ich schon lange nichts mehr von ihr gehört habe. Wie auch?« Sie lacht. »Ein privater Internetzugang gehört hier ja leider nicht zum Zimmerstandard.«
»Sie nennen Elli Ihre Freundin«, wiederholt Dr. Falkenhagen.
»Eigentlich war sie nur eine Userin im Netz, anonym und versteckt hinter einem Webnamen. Aber ich habe sie schnell als Freundin empfunden, in so einer Situation freundet man sich schnell an. Verzweiflung schweißt zusammen, wissen Sie?«
»Was war das also für eine Mail?«
»Ich musste nur die ersten Zeilen lesen und war sofort wie elektrisiert. Elli schrieb ziemlich genau das, was ich durchmachte. Von ihrem Drang, anderen etwas anzutun, von ihrer Angst und ihrem Schamgefühl. Gut, das hatte ich von anderen in dem Forum auch schon gelesen. Aber bei Elli war es anders.«
»Was war anders?«
»Sie war nicht so verzweifelt, nicht so mutlos. Ihre Mail kam mir vor, als würde sie mich bei der Hand nehmen, so wie ich früher Kinder an die Hand genommen hatte, wenn es nach draußen ging, zum Schwimmen oder rüber in die Turnhalle.«
»Und was genau hat Elli Ihnen geschrieben?«
»Warten Sie kurz, fünf Minuten, dann zeige ich es Ihnen.« Marie geht rüber in ihr Zimmer und holt ihr Tagebuch. Das Buch, in dem sie irgendwann alles aufgeschrieben hat und in dem sie jede von Ellis tröstlichen Nachrichten als Ausdruck aufbewahrt. Und das seit dem Prozess reichlich zerfleddert ist, zerfleddert und zerlesen von Fremden, denn es war als Beweisstück ebenfalls sichergestellt worden. Mittlerweile hat Marie es zurück. Und ist froh darüber, dass sie wenigstens noch ihre Aufzeichnungen hat. Und die Mails von Elli. Auch wenn die ihr jetzt natürlich nichts mehr nützen.
»Liebe Helena HH ,
ich lese deinen Eintrag und muss dabei weinen. Weil ich genau weiß, wie es dir geht, weil ich doch fast das Gleiche erlebt habe wie du. Wir kommen sogar beide aus Hamburg und sind fast gleich alt, auch ein Grund dafür, dass ich dir sofort schreiben musste.
Vielleicht erzähle ich ein bisschen von mir: Ich bin schon seit meiner Kindheit zwangserkrankt, wobei ich erst sehr spät erfahren habe, woran ich leide. Angefangen hat es bei mir im Alter von vier Jahren, als mein älterer Bruder bei einem Schwimmunfall ums Leben gekommen ist. Zuerst fing es mit magischem Denken an. Du glaubst, dass du das Schicksal beeinflussen kannst, indem du etwas tust oder auch nicht tust. Ein bisschen wie Zauberei oder wie im Märchen ist das, man muss bestimmte Rituale einhalten, sonst passiert etwas Schlimmes.
Bei mir war es so, dass ich anfing, mich vor dem Schlafengehen in einer ganz bestimmten Reihenfolge auszuziehen und meine Sachen nach dem gleichen Schema wegzuräumen. Immer erst die Socken oder die Strumpfhose, und zwar IMMER erst den rechten, dann den linken Fuß, dann zwischendurch das Licht drei Mal an- und ausschalten, danach meinem Kuschelhasen eine gute Nacht wünschen, dann erst Rock oder Hose ausziehen und unten links in den Kleiderschrank legen und so weiter und so fort. Ich war ja noch ziemlich klein, und ich musste so viel befolgen, dass ich manchmal durcheinanderkam. Wenn das geschah, musste ich noch einmal ganz von vorn anfangen und alles wieder anziehen, so lange, bis ich alles »richtig« gemacht hatte. Wenn ich das nicht tat, hatte ich plötzlich schreckliche Angst, dass noch jemand aus meiner Familie sterben würde, also wiederholte ich das Ritual natürlich, denn ich wollte ja nicht schuld an etwas Schlimmem sein.
Mit der Zeit entwickelte ich immer mehr »Macken«, musste immer mehr geheimnisvolle Regeln befolgen, ich war ständig im Stress und brauchte für alles Ewigkeiten, weil ich ja diese Rituale einhalten musste. Manchmal habe ich versucht, es einfach bleiben zu lassen – aber der Druck in mir war viel zu groß, den konnte ich nicht
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