Alles muss versteckt sein (German Edition)
viel ist sicher. Da kann Elli sagen, was sie will, das schaffe ich einfach noch nicht. Vielleicht ja nie mehr, im Moment bin ich da mehr als skeptisch, dass ich je wieder mit Kindern arbeiten kann.
Ach, und dann hat noch Mama angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Hat nicht mal gefragt, wie es mir geht, sondern nur von ihrem Kurztrip nach Verona geplappert, ein Opernabend in der Arena. Einfach so tun, als wäre überhaupt nichts los und zur normalen Tagesordnung übergehen, so hat sie das schon immer gemacht, sogar nach Celias Tod. Worüber man nicht spricht, das ist auch nicht passiert, so simpel ist das. Das heißt, nein, das stimmt nicht ganz. Sie hat mir aus ihrem Urlaub eine Karte geschickt, die vorhin in meinem Briefkasten lag. Muss sie an einer Raststätte oder so unterwegs bei ihrer Reise entdeckt haben. Mit einem wirklich sehr passenden Sinnspruch:
»Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.
Aus dem Talmud.«
Na, danke, Mama! Das hilft mir wirklich ungemein! Zu begreifen, wie sehr du mich verstanden hast.
Samstag, 19. Mai
Elli hat mir etwas vorgeschlagen. Etwas, das ihr selbst sehr geholfen hat. Ich soll meine Fantasien aufnehmen, sie aufsprechen und sie mir dann anhören, wieder und wieder, so lange, bis sie nicht mehr so schrecklich für mich klingen. Elli selbst würde das auch so machen, mit einem Handy würde das ganz einfach gehen, dafür bräuchte ich nicht einmal ein extra Aufnahmegerät. Das wäre ebenfalls eine Expositionsübung. Ungefähr so wie Leute, die sich vor Spinnen ekeln und dann eine auf die Hand gesetzt bekommen, damit sie merken, dass gar nichts passiert.
Aber schaffe ich das mit den Aufnahmen? Irgendwie habe ich riesige Angst davor. Wenn ich die Gedanken ausspreche, werden sie dann nicht noch mehr Wirklichkeit? Und die Vorstellung, mir das Ganze dann auch noch mit meiner eigenen Stimme anzuhören – die gruselt mich!
Mittwoch, 23. Mai
Gestern Abend hab ich’s gemacht. Hab erst eine halbe Flasche Wein getrunken, mir dann mein Handy geschnappt, den Aufnahmemodus eingeschaltet und alles erzählt, was ich bisher immer nur gedacht oder maximal an Elli geschrieben habe. Sätze wie: »Ich nehme einen Hammer und schlage damit einem Kind auf den Kopf, so lange, bis der Schädel bricht, das Blut spritzt und das Kind tot umfällt.« Puh, ich musste ein paar Anläufe machen, auf Anhieb hab ich das überhaupt nicht hingekriegt.
Und dann das Anhören! Meine Stimme, die mir solche schlimmen Sachen erzählt, richtig widerlich war das, so widerlich, dass ich die Aufnahme zwischendurch immer wieder anhalten musste. Ich hab nur weitergemacht, weil Elli mir versichert hat, dass es mit der Zeit besser werden würde. Wurde es dann sogar auch. Nach vier, fünf Mal Anhören kam mir das alles gar nicht mehr so schrecklich vor. Eher unwirklich. Wie ein Gruselfilm, den man sich ansieht, mit dem man aber nichts zu tun hat, »Nightmare on Elm Street«, allerdings bei mir zu Hause, auf meinem Handy. Es war auszuhalten. Dann irgendwann kamen mir die Aufnahmen nur noch bescheuert vor. Und am Ende musste ich sogar lachen und mir innerlich selbst einen Vogel zeigen. So verrückt ist das alles! Viel zu verrückt, als dass ich irgendetwas davon jemals tun würde!
Freitag, 8. Juni
Mir geht es besser, so viel besser! Die Aufnahmen helfen mir tatsächlich, seit ich mich täglich mit meinen furchtbaren Gedanken auseinandersetze, sind sie schon viel weniger und schwächer geworden. Ich weiß gar nicht, wie ich Elli danken soll, ohne sie wäre ich komplett aufgeschmissen. Wir schreiben uns täglich, und ich würde ihr zu gern etwas zurückgeben. Aber sie meint, dass es ihr schon guttäte, sich mit mir auszutauschen, weil wir uns so ähnlich sind. Und dass es sie freut, wenn es mir gut geht, weil ihr das selbst auch Mut macht. Viel weiß ich immer noch nicht über sie, sie hält sich ziemlich bedeckt, wenn es um ihr »echtes« Leben geht. Aber das kann ich auch verstehen, es ist so viel leichter, über die Krankheit zu reden, wenn man anonym bleibt.
In der Zwischenzeit habe ich ihr meinen echten Namen verraten, und sie hat mir geschrieben, dass sie wirklich Elli heißt (von Elisa? Elisabeth? Das hat sie mir nicht gesagt, aber es ist ja auch eigentlich egal). Sie
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