Alles muss versteckt sein (German Edition)
selbst. Sie fragt ihn erst gar nicht weiter, lässt ihn einfach stehen und geht zu ihrer Zimmertür. Als sie eintritt, fällt ihr Blick sofort auf Hannah. Das Mädchen sitzt mit angewinkelten Beinen auf seinem Bett, wirkt völlig verängstigt und weint, während eine der Schwestern daneben kniet und Hannahs Nase untersucht.
»Ist nicht gebrochen«, sagt die Pflegerin. Hannah schluchzt und weint, wischt sich mit dem Handrücken den Sabber von der Nase.
»Störe ich?«, will Marie wissen.
»Gehen Sie lieber raus«, sagt die Schwester.
»Nein«, widerspricht Hannah, »Marie soll nicht gehen.« Marie bleibt unschlüssig im Zimmer stehen, fragt sich, was hier gerade passiert ist, und was Susanne bei Hannah wollte. Oder wollte sie eigentlich zu ihr, Marie? Nein, das kann nicht sein, als sie vor einer knappen Stunde zu ihrem Gespräch mit Dr. Falkenhagen gegangen ist, ist ihr Susanne auf dem Flur begegnet, sie muss also gewusst haben, dass Marie nicht in ihrem Zimmer ist.
»Kann sein, dass die Nase noch anschwillt oder sich verfärbt«, erklärt die Schwester. »Ich hole Ihnen eine Salbe.«
»Ist schon in Ordnung«, lehnt Hannah ab. »Ich glaube, so schlimm ist es nicht.« Sie versucht ein schiefes Lächeln. »Bin ja hart im Nehmen.«
»Okay. Aber wenn etwas ist, rufen Sie mich bitte oder drücken Sie die Klingel, in Ordnung?« Hannah nickt, die Schwester steht auf, mustert ihre Patientin noch einmal mit prüfend medizinischem Blick und geht dann hinaus.
Marie geht rüber und setzt sich auf den Rand der Matratze. »Was ist passiert?«
»Ich wollte ein bisschen schlafen«, erzählt Hannah stockend. »Hab mich schon den ganzen Tag so schlapp gefühlt und dachte, ich leg mich eine Stunde hin.« Sie macht eine Pause, ihre Augen sind noch immer ganz glasig und verheult.
»Und?«
»Ich bin aufgewacht, weil ich plötzlich nicht mehr atmen konnte. Im ersten Moment dachte ich, da ist irgendwas auf mich draufgefallen, es war komplett dunkel«, spricht Hannah weiter. Ihre Augen weiten sich, als würde sie den Moment beim Erzählen noch einmal durchleben. »Erst da hab ich begriffen, dass jemand auf mir sitzt und mir ein Kissen aufs Gesicht drückt.«
Marie schießt das Blut in die Wangen, gleichzeitig werden ihre Fingerspitzen eiskalt. Ich nehme ein Kissen und drücke es auf Patricks Kopf, setze mich darauf und halte es so lange fest, bis er aufhört zu strampeln und zu schreien, bis sein Körper schlaff und leblos unter mir liegt.
»Dann habe ich Susannes Stimme gehört. Sie hat gelacht, so richtig irre, ich hatte totale Panik, hab geschrien und gestrampelt.« Bis er aufhört zu strampeln. »Irgendwie hab ich den Notfallknopf zu fassen gekriegt. Und dann waren da auf einmal ganz viele Leute, alle haben aufgeregt durcheinandergeschrien, jemand hat mich bei den Schultern gepackt, mich geschüttelt und immer wieder meinen Namen gerufen, und ich wusste gar nicht mehr so richtig, wo ich bin oder ob ich überhaupt noch bin.«
»Sie hat versucht, dich umzubringen.« Marie ist fassungslos. Dass Susanne ernsthaft krank ist, ja, das hat sie gewusst. Vielleicht auch verschlagen und bösartig, das auch, aber so gefährlich, dass sie versuchen würde, eine Mitpatientin zu ermorden. Ahnungslos und arglos im Schlaf, sodass sie sich nicht hatte wehren können. Und dann denkt sie …
»Nimmst du mich bitte mal in den Arm?« Hannah sieht sie aus großen Kinderaugen an, noch immer kullern vereinzelt Tränen über ihr Gesicht. Marie zögert nur kurz, aber das Mädchen merkt es trotzdem. »Was hast du?«
»Angst.«
»Wovor denn?« Marie antwortet nicht. »Etwa vor mir?«
»Vor dir?« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, vor dir habe ich keine Angst, wirklich nicht!«
»Sondern?«
»Ich fürchte mich vor mir selbst. Ganz schrecklich sogar.«
»Warum?« Die Kinderaugen werden noch größer, blicken überrascht, verständnislos.
»Weil ich mir nicht traue«, erklärt Marie. »Weil ich mir nicht sicher bin, ob ich dir nicht genau dasselbe antun könnte wie Susanne.«
»Nein.« Hannah sagt das einfach so. Nein.
»Nein?«, fragt Marie. Das Mädchen nickt bestätigend mit dem Kopf. »Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben.«
»Du kennst mich doch gar nicht.«
»Aber ich sehe, wer du bist. Das habe ich sofort gesehen.«
»Wer bin ich denn?«, will Marie wissen und hört selbst, wie verzweifelt sie dabei klingt. Als könnte dieses kranke, sehr kranke Mädchen ihr endlich die Antwort auf die Frage geben, die sie schon so lange
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