Alles muss versteckt sein (German Edition)
zur Weißglut. Am liebsten würde sie sich seinen goldenen Kugelschreiber schnappen und ihm das Teil in seine blasierte Visage rammen.
»Verstehen Sie denn nicht?«, schreit sie. »Das Handy! Ich hätte mein verfluchtes Handy nie aus der Hand geben dürfen!«
10
P ieep, pieep, pieep! Jan Falkenhagens Pieper geht los, als hätte Maries Geschrei einen Alarm ausgelöst. Zuerst denkt sie wirklich, das Geräusch kommt aus ihr selbst heraus, aber dann merkt sie, dass es das kleine flache Kästchen ist, das der Arzt immer am Hosenbund trägt. Er klippt es vom Gürtel ab und wirft einen Blick aufs Display. Sofort runzelt er die Stirn und springt auf.
»Das war’s für heute«, sagt er. »Wir sehen uns morgen wieder!«
»Aber … «
»Tut mir leid. Ich werde gerade dringend gebraucht.«
Marie steht ebenfalls auf, unsicher, ohne ihm zu sagen, dass sie ihn auch braucht, gerade jetzt, als sie angefangen hat, über eine ihrer schlimmsten Erinnerungen zu sprechen. Er lässt sie damit allein, die Sprechzeit ist um, ihre Gefühle werden sich danach richten müssen, dass sie erst morgen wieder zum Vorschein kommen dürfen.
Draußen im Flur läuft Jan Falkenhagen mit eiligen Schritten den Gang hinunter, am Ende steht ein Pfleger und winkt ihn mit hektischen Bewegungen zu sich heran. Als er ihn erreicht hat, verschwinden beide durch die große Tür mit Milchglasfenstern, die zum Wohnbereich der Station führt. Langsam geht Marie ihnen nach. Sie erreicht ebenfalls die Tür, öffnet sie – und bleibt wie angewurzelt stehen. Direkt vor ihrem Zimmer herrscht ein kleiner Auflauf. Zwei Pfleger und drei Schwestern stehen dort, reden aufgeregt durcheinander, Dr. Falkenhagen und der andere Pfleger stoßen dazu. Was wollen sie alle ausgerechnet vor ihrem Zimmer?
Eine Minute später wird Susanne schreiend und tobend durch die Tür raus in den Flur gezerrt. Marie ist verwirrt, dass Susanne aus diesem Zimmer kommt, schließlich wohnt sie ja jetzt woanders.
»Fotze!«, brüllt sie. »Lasst mich los! Ich bring die kleine Fotze um! Finger weg, habt ihr verstanden? Nehmt eure dreckigen Finger weg von mir!« Der Arzt geht dazwischen, schiebt einen der zwei großen Männer, die Susanne an beiden Armen festhalten, zur Seite und redet beruhigend auf sie ein. Marie kann nicht verstehen, was er sagt, aber allein sein eindringlicher Tonfall lässt darauf schließen, dass die Situation ziemlich ernst, vielleicht sogar bedrohlich ist. Der kleine Trupp entfernt sich, Susanne wird abgeführt, wie Marie es schon einmal miterlebt hat. Allerdings diesmal nicht in Richtung Vandalenzimmer, die Patientin verschwindet in dem Raum, in dem normalerweise Blutdruck gemessen und andere Untersuchungen vorgenommen werden.
Günther kommt den Flur herunter, bleibt direkt vor Marie stehen, stinkt wie immer nach Schweiß und irgendetwas anderem Widerlichen, grinst sie breit an. Zum ersten Mal fällt ihr auf, dass ihm der vordere rechte Eckzahn fehlt, und die anderen Zähne sind braun und stummelig, sehen so verfault aus, als würden sie jeden Moment von ganz allein rausfallen. Fasziniert und angeekelt starrt Marie auf diese Ruinen in Günthers Mund, denkt an »Karius & Baktus«, zweimal Zähne putzen jeden Tag, morgens drei Minuten und abends drei Minuten. Gesungen zur Melodie von »Ein Männlein steht ihm Walde«: Ich putze meine Zähne von Rot nach Weiß / und führe meine Bürste stets rund im Kreis. / Morgens, wenn ich früh aufsteh’, / abends wenn ins Bett ich geh’, / putz ich meine Zähne so weiß wie Schnee. Mit Günther wird niemand je dieses Lied gesungen oder zusammen mit ihm vor einem Badezimmerspiegel gestanden haben.
»Die ist erst mal weg«, stellt er schadenfroh fest, sein Grinsen wird noch breiter. »Dabei hat sie gestern noch was von Vollzugslockerung geschwafelt, die der Doc ihr angeblich versprochen hat.« Er lacht. »Das kann sie wohl vergessen.«
»Was ist denn passiert?«
»Keine Ahnung.« Obwohl er keine Ahnung hat, grinst er noch immer, als würde hier gerade etwas sehr Lustiges passieren. »Hab auch nur mitgekriegt, dass da irgendwas in eurem Zimmer los war.«
Wir sitzen doch alle in einem Boot, denkt Marie. Aber wie Günther da so vor ihr steht und sich ganz offensichtlich darüber freut, dass Susanne gerade weggebracht wurde, wird ihr klar, dass hier keiner mit dem anderen in einem Boot sitzen will. Hass und Häme, das ist es, was sie alle hier zusammenschweißt, und jeder freut sich, wenn der andere noch beschissener dran ist als er
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