Alles muss versteckt sein (German Edition)
welche waren, sie hatte sich doch immer darauf verlassen, dass nie etwas passieren könnte, dass alles, was in ihrem Kopf vor sich ging, nichts weiter als harmlose Hirngespinste waren. Erschreckend und grauenhaft, sicher, aber doch nur für sie, völlig ungefährlich für jeden anderen. Sonst hätte Marie sich ganz anders verhalten, hätte irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, sich zur Not selbst weggesperrt oder eingeliefert, verdammt, das hätte sie doch getan!
»Hat er dich bedroht oder dich irgendwie verletzt?«, geht Christopher in ihre Überlegungen dazwischen, drückt ihre Hände noch ein wenig fester und bringt sie so dazu, ihn wieder anzusehen. Jetzt klingt er so aufgeregt wie die Polizisten damals beim ersten Verhör. Auch sie haben nicht fassen können, dass diese kleine, zierliche Frau, die da vor ihnen saß, für das Gemetzel in Patricks Schlafzimmer verantwortlich sein soll.
»Ich weiß es nicht«, sagt Marie.
»Hattest du etwas getrunken?« Unverwandt hat er den Blick auf sie gerichtet. Vor über zwölf Jahren hat Marie zum ersten Mal in seine grauen Augen mit den vielen kleinen braunen Sprenkeln gesehen, die so gut zu Christophers Sommersprossen passen. Er hatte den Sohn seiner Schwester vom Kindergarten in der Mansteinstraße abgeholt, hatte sich Marie als »Superonkel« vorgestellt und sie angelächelt, wobei das Grübchen in seiner linken Wange deutlich zum Vorschein getreten war.
Liebe auf den ersten Blick war es damals nicht gewesen, aber nachdem Christopher seinen Neffen immer öfter abgeholt und jedes Mal einen kleinen Plausch mit Marie gehalten hatte, war sie irgendwann mit ihm ausgegangen und hatte sich mit der Zeit in ihn verliebt. Sie hatte kaum glauben können, dass so ein attraktiver, intelligenter und erfolgreicher Mann wie Christopher ausgerechnet sie, die einfache Erzieherin, wollte. Aber so war es gewesen, nur ein Jahr später hatten sie geheiratet, und schon in der Hochzeitsnacht hatte Christopher ihr ins Ohr geflüstert, dass er sich bald einen ganzen eigenen Kindergarten oder wenigstens eine Fußballmannschaft von ihr wünschen würde.
Dazu war es nie gekommen, nur einer einzigen Tochter hat sie das Leben geschenkt. Und dieses Leben liegt nun auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf begraben, unter einem weißen Marmorstein mit der Aufschrift »Celia«. Kleine gelbe Teerosen hat Marie auf die Stätte gepflanzt, weil ihre Tochter diese Blumen immer geliebt hatte. Zwei Monate früher wären sie noch rosa gewesen, doch seit der Einschulung war Celia der Meinung, diese Farbe sei etwas für »Babys«, und hatte darauf bestanden, all ihre Sachen in Rosa und Pink wegzuwerfen.
Deshalb also gelbe Rosen, wie ein kleiner Sonnenstrahl auf Celias Grab, ein Lichtschein in ewiger Dunkelheit. Marie hofft, dass ihre eigene Mutter Regina sich nun darum kümmert, dass die Blumen weiter blühen. Wenn sie auch Marie, ihre Tochter, nach den Ereignissen der letzten Wochen aufgegeben hat – ihre Enkelin hatte sie schließlich immer geliebt.
Was für ein Stein wohl auf Patricks Grab steht? Marie vermisst ihn, vermisst ihn sogar sehr und hätte ihn gern noch einmal gesehen, wenn auch nur bei seiner Beerdigung. Man hat sie nicht dazu eingeladen, aber sie hätte ja auch gar nicht kommen können, dafür hätte man sie nicht rausgelassen. Und weder Vera noch Felix haben sich je wieder bei ihr gemeldet. Natürlich nicht, etwas anderes war auch nicht zu erwarten gewesen. Im Gerichtsaal hatten Patricks Geschwister nur stumm auf ihren Plätzen gesessen und Marie angestarrt, hatten den Ausführungen des Staatsanwaltes und der Gutachter, dem Plädoyer von Maries Verteidiger wortlos gelauscht. Einzig für ihre Zeugenaussagen hatten sie den Mund aufgemacht. Ansonsten wie bei allen anderen Anwesenden auch bei ihnen sprachlose Fassungslosigkeit, die nach dem Urteilsspruch in schweigende Resignation übergegangen war.
»War es im Affekt? Notwehr? Hattest du eine Panikattacke? Wollte er dich vergewaltigen?«, bestürmt Christopher sie weiter mit Fragen, auf die Marie keine Antwort weiß, nicht eine einzige. Sie kann sich doch an nichts erinnern. An rein gar nichts. Nur daran, wie sie morgens neben Patrick erwachte, noch ein bisschen benommen und benebelt vom Abend davor, ein leichtes Pochen in beiden Schläfen, vermutlich vom schweren Rotwein und vom Sekt, den sie Stunden zuvor getrunken hatte. Und wie alles voller Blut war. Voll mit dunkelrotem, fast schwarzem, klebrigem und stinkendem Blut, überall. Im
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