Alles muss versteckt sein (German Edition)
sich so für Ihre Zwänge interessiert?«, will Dr. Falkenhagen wissen.
»Warum schauen Menschen sich Gruselfilme an?«, fragt Marie zurück. »Warum gaffen sie bei Verkehrsunfällen auf der Autobahn? Wieso beherrschen Krieg, Mord und Totschlag die Schlagzeilen in den Medien und nicht Friede, Freude, Eierkuchen?« Sie zuckt mit den Schultern. »Weil wir eben so sind. Das, was uns unheimlich ist, finden wir aufregend, vor allem, wenn es uns selbst nicht betrifft. Es ist eine Faszination, der wir uns kaum entziehen können. So, wie Patrick es mal gesagt hat: In jedem von uns steckt ein Dr. Jekyll und ein Mr Hyde.«
»Teilen Sie seine Meinung?«
»Ja, das tue ich. Und ich denke, dass es Ihnen auch nicht anders geht.«
»Mir?«
»Ja.« Marie spürt wieder einen Anflug von Ärger gegenüber diesem Arzt, der eigentlich nicht viel mehr tut, als belanglose Fragen zu stellen. Wie er sie damit heilen will, scheint ihr mehr als schleierhaft. »Sehen Sie sich doch mal an!«, spricht sie weiter. »Sie sind ein junger, gut aussehender Mann, dazu offenbar intelligent und gebildet. Und für welchen Beruf haben Sie sich entschieden? Sie sind Irrenarzt geworden!« Bei dem Wort verzieht er nicht eine Miene, im Gegenteil, die Andeutung eines Lächelns tritt auf sein Gesicht, die Bezeichnung scheint ihn zumindest zu amüsieren. »Aus irgendeinem Grund haben Sie beschlossen, damit Ihr Leben zu verbringen: mit Verrückten, Geisteskranken, Durchgeknallten. Jeden Tag. Halten Sie das für normal? Ich nicht!«
»Da kann ich Ihnen nicht widersprechen«, gibt der Arzt zu. »Offenbar bin ich ebenfalls von dem Dunklen, das in uns allen ist, fasziniert, sonst würde ich diesen Beruf wohl kaum ausüben.«
»Sehen Sie!« Marie spürt eine gewisse Befriedigung, offenbar hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen!
»Aber das ist nicht alles«, fährt er fort. »Denn ich möchte gleichzeitig meinen Patienten helfen. Nun ja«, er lächelt verlegen, »pathetisch ausgedrückt sehe ich es als meine Aufgabe an, die Menschen dabei zu unterstützen, dieses Dunkle zu überwinden und wieder zurück ans Licht zu kommen.«
»Das ist echt pathetisch!« Christopher lacht. »Allerdings klingt es ganz gut.«
»Ja, das tut es«, findet auch Marie. »Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn Sie langsam auch ein wenig Licht in mein Dunkel bringen würden.« Vor ihrem inneren Auge stellt sie sich vor, wie der Arzt eine Glühbirne anknipst, und plötzlich ist alles hell um sie und in ihr. Erleuchtung, dieses Wort fällt ihr ein, sie hätte so gern eine Erleuchtung. Doch nun, da es an der Zeit ist, den letzten Teil ihrer Geschichte zu erzählen, taucht sie wieder ein in die Dunkelheit. Die Dunkelheit ihres letzten Abends in Freiheit. Die letzten Stunden ihres Lebens, in denen sie noch keine Mörderin war.
Am zweiten Samstag im September begann die neue Spielzeit am Theater, und natürlich hatte Vera für Patrick, Felix und mich Karten für die Premiere besorgt. Das Eröffnungsstück war ein echter Klassiker, der so viele Leute wie möglich ins Schauspielhaus locken sollte, »Romeo und Julia« in einer, wie Vera es nannte, »08/15-Inszenierung«.
»Ich will ja auch gar nicht meckern«, sagte sie, als wir sie nach der Vorstellung hinter der Bühne zu ihrem Auftritt beglückwünschten, denn das Publikum hatte mit seinem Applaus ganze acht Vorhänge gefordert, »immerhin darf ich trotz meines hohen Alters noch die Julia spielen und nicht die Amme, das ist doch mal was!«
»Stimmt, eigentlich siehst du eher nach ›Miss Daisy und ihr Chauffeur‹ aus«, frotzelte Felix, lachte und gab Vera einen Kuss direkt auf den Mund.
»Lass das, du Idiot!« Sie stieß ihn von sich, offenbar hatte sein kindischer Witz sie ziemlich getroffen.
»Dann lasst uns mal zur Party gehen«, schlug Patrick vor, bevor die bis dahin gute Stimmung kippen konnte.
»Genau!«, pflichtete Felix ihm bei. »Nach dieser langweiligen 08/15-Aufführung haben wir uns ein bisschen Feiern verdient.«
»Also wirklich, du Idiot!«, zischte Vera ihm zu, während wir uns auf den Weg zur Kantine machten.
Die Premierenparty war noch ausgelassener als die erste, an der ich teilgenommen hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich mich mittlerweile als Teil der Veranstaltung fühlte und nicht mehr so eingeschüchtert und verunsichert war, schließlich war es für jeden ersichtlich, dass ich zu Patrick und damit auch zu Vera, dem Star des Abends, gehörte. Das Schauspielhaus hatte sich nicht lumpen lassen und
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