Alles über Sally
dachte mit Schaudern an die letzte Möglichkeit. Sie sagte sich, Alfred ist doch eigentlich ein herzensguter Kerl, ich sollte meine Zeit für Besseres verwenden als dafür, dass ich darüber spekuliere, welche Gefühle ich haben werde, wenn etwas eintritt, das nach aller Wahrscheinlichkeit so rasch nicht eintreten wird. Ich sollte besser versuchen, mich als erwachsene Person in Erwachsenenmanier meinen Erwachsenenproblemen zu stellen.
Sally machte sich ans Kochen. Das Gefühl der Zärtlichkeit hatte sich wieder verflüchtigt, so unerwartet, wie es gekommen war. Es hatte nur drei Minuten gedauert odernicht einmal, kurzlebig wie eine Kaktusblüte, wie ein Augenblick der Klarheit im Gehirn eines Wahnsinnigen.
Ihre Stimmung besserte sich ein wenig, als Emma nach Hause kam. Doch zu Sallys Enttäuschung ließ sich Emma nicht aushorchen, ob sie gerade einen Freund hatte und wilde sexuelle Erfahrungen machte. Statt vertrauensvoll Auskunft zu geben, verbreitete Emma blauen Dunst, es stünden drei Verehrer zur Auswahl, Details über dieses Triumvirat konnte ihre Gedankenwerkstatt auf die Schnelle aber nicht fabrizieren, deshalb blieb das Gespräch gleich wieder stecken. Und die schlauen Tipps, mit denen Sally gerne versucht hätte, ihre Tochter in eine realistischere Welt zu bugsieren, stießen auch auf wenig Neugier. Dabei hätte sich Sally im Augenblick gerade für besonders kompetent gehalten. Ich weiß mehr über diese Dinge als jedes Buch, in Büchern steht meistens das Falsche.
Entsprechend der hohen Meinung, die sie gerade von sich hatte, beendete Sally das Thema:
»Dann stolpere halt weiter ahnungslos herum.«
Beim Abendessen wurden fast nur Allgemeinplätze berührt. Es gab profanen Palaver über eine Einladung zu Alfreds Patentante nach Schenkenfelden, Cholesterinspiegel, Emmas neues Handy und die bevorstehende Nationalratswahl. Sally achtete darauf, nichts Persönliches zu berühren, nur ihre Blase auf der linken Fußsohle sprach sie an, Alfred meinte, an dieser Stelle müsse sie vorsichtig sein. Schwer zu sagen, was genau er damit meinte, Sally fragte nicht nach.
Dass der Haussegen schief hing, bemerkte Emma trotzdem. Plötzlich sprach sie es an in der für sie typischen, naivenund gleichzeitig frevlerischen Art. Sally musste lachen, halb über die Art, wie es kam, halb über die friedliche Zähigkeit von Emma, dem Familientier. Es war so viel Nettes an diesem Mädchen, Sally konnte ihr nicht böse sein.
Was unterdessen Alfred dachte, blieb unklar, er stellte sich tot, bis Emma ihm mit der Hand über den Kopf fuhr und einen längeren Blick von ihm erhielt, gutmütig, in Emmas kulleräugige Anhänglichkeit hinein. Sollte Geduld signalisieren, nahm Sally an, auch diese Phase stehen wir durch. Wenn man Sally fragte, sah es ganz so aus, als herrschte zwischen Vater und Tochter ein geheimes Einverständnis. Emma tätschelte aufmunternd Alfreds Kopf, dann entfernte sie sich vom Tisch. Für zehn Minuten zog sie murmelnd ihre Kreise im Parterre, ehe sie ihr neues Cello schulterte und zu einer Orchesterprobe ging. Auch Gustav tauchte während dieser Zeit auf. Er führte fünf Minuten Schmäh, schlang die Reste des Essens hinunter und trank zu Sallys Befremden Bier aus der Flasche. Zwischendurch verkündete er lapidar, dass er zum Fußballschauen ins Wirtshaus gehen werde.
»Haben wir keinen Fernseher zu Hause?« fragte Alfred. Er versuchte, Gustav zum Daheimbleiben zu bewegen. Als Hauptargument führte er an, dass Gustav in seinem letzten Schuljahr aus der Kurve fliegen werde, wenn er so weitermache. Aber in Wahrheit störte Alfred nur, dass er sich das Match ebenfalls anschauen wollte und dass er wenig Freude an dem Gedanken hatte, es alleine tun zu müssen.
Weil er das Manöver seines Vaters ebenso durchschaute wie Sally, zögerte Gustav. Unschlüssig zog er den Ärmel unter der Nase durch, er, dessen Verstand noch wuchs. Inzwei Monaten wurde er achtzehn. Sally sah Bilder vor ihrem inneren Auge, Gustav, als er elf war, er sah noch so jung aus, ein kleiner Bub, vor allem neben den selbstbewussten, strahlenden Mädchen. Und trotzdem cool wie nur möglich, schon damals. Es schien lange her zu sein, obwohl es kaum sieben Jahre waren, im Sommer, als sie die Aulichs kennengelernt hatten. Und Gustavs Geburtstag vor achtzehn Jahren, ein wunderschöner, sonniger Tag. Sally rief in London an, Risa kam an den Apparat, so gegen elf Uhr am Vormittag. Sally berichtete die Neuigkeit, das war ein großer Moment. Später
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