Alles über Sally
Zärtlichkeit und seine Konzentration – eigentlich, wenn man es nüchtern betrachtete – waren lächerlich. – – Wie auch die Art, mit der er, kaum auf die Seite gerollt, unter dem Kopfkissen seinen Pyjama hervorzog. – Ruhe wohl, dachte Sally. Irgendwann im Laufe der Nacht.
Sallys Traum:
Er hatte damit zu tun, dass die Straße, in der sie wohnten, neu gepflastert wurde, nachdem sie zerbombt worden war, und dass Alfred daneben stand und sich die Naseputzte. Später war es, als hätte Sally noch einen Buben bekommen, einen dunkelhaarigen Säugling mit Lehm auf den Lippen. Sie gab ihm die Brust.
Alfreds Traum:
Eine Horde Sioux stürmte unter Geheul vom Wilhelminenberg herunter, sie hatten es auf Alfred abgesehen und wollten ihm eine Glatze scheren und ihm die Glatze mit Butter einschmieren. Alfred lief sehr schnell und kam nur mit Mühe davon.
»Ich habe von Indianern geträumt«, sagte er.
»Hhm.«
Sie hatten geschlafen, jetzt waren sie wieder wach, schlafen, aufwachen, ausrecken, strecken, schütteln, barfuß Richtung Bad, gähnen, das Gesicht gezeichnet von den Gespenstern der Unvernunft. Im Bad der Geruch von Alfreds Rasierwasser, und unter die Dusche, Wasserorgien, um munter zu werden, das Reiben der Fingerknöchel in den Augenwinkeln, ahhh. Draußen noch dunkel, was für eine Zumutung. Aber die Tränensäcke sind nochmals deutlich weniger als gestern. Dann durch das stille Haus. Alfred krakelte in seinem Tagebuch. Sally machte Kaffee. Er holte sich eine Tasse, einige Sätze gewechselt, die erfreuliche Begegnung in der vergangenen Nacht. In einsilbiger Verschlafenheit. Sie sahen einander nicht mehr, bevor Sally mit Gustav das Haus verließ. Sonnenaufgang. Gustav rasselte auf seinem Skateboard davon. Allein trottete Sally zur Bushaltestelle, sie stand dort vor einem Plakat, das ein Madonna-Konzert bewarb. Madonna war jetzt auch schon fünfzig.Die ließ sich angeblich scheiden. Zum zweiten Mal. Like a Virgin . Wofür stand das? Like a Virgin? Für das erste Mal. Wenn’s noch weh tut.
Bei Sally wäre es das erste Mal.
Als Lehrerin führte man ein unauffälliges Leben. Die Schülerinnen und Schüler nahmen einen schon deshalb nicht ernst, weil man für jemand gehalten wurde, der es nicht geschafft hat. Diese leise und manchmal weniger leise Verächtlichkeit wurde den Schülern von der Gesellschaft vermittelt, allen voran den Eltern. Früher wurde man geachtet, wenn man den Kindern der Nachbarn etwas beibrachte, heute vernachlässigten die Eltern ihre Kinder und respektierten noch nicht einmal die Lehrer. Die Geringschätzung galt allen Lehrern, auch denen, die in ihrem Beruf Hervorragendes leisteten, Sally zum Beispiel, darüber waren sich ihre Kolleginnen und Kollegen einig. Wie es passieren konnte, dass ein so wichtiger Beruf zu dermaßen schlechtem Ansehen gelangt war, bereitete Sally Kopfschmerzen. Zumal für viele Kinder die Schule der einzige Ort war, an dem sie sich wohl fühlten. Zumal immer mehr Kinder in der Früh angestürmt kamen mit wild hinter sich her schleifenden Zügeln, die von den Lehrern nur unter halsbrecherischem Einsatz aufgegriffen werden konnten.
Wenn man Sally fragte, waren nicht die Lehrer schlechter geworden, die waren vermutlich wie seit eh und je, und auch nicht die Schülerinnen und Schüler, die waren nur der Kommentar zu einer schon bestehenden Schieflage, in der sie zu wenig Unterstützung und Verbindlichkeit erhielten. Schuld waren die Gesellschaft und die Eltern. Dochauch die Eltern bekamen in der Arbeit zu viel Druck, überall herrschte Druck, am Abend fehlte die Energie, und dann haperte es mit den Nerven für den Nachwuchs. Man schrie die Kinder an, statt mit ihnen zu reden. Auch mit den Lehrern wurde zu wenig geredet. Viele Eltern tauchten das ganze Jahr über nur ein einziges Mal auf, das machte ein Miteinander schwierig.
Oft war es allein Sache der Schule, auszubügeln, was anderswo verpfuscht wurde. Scheiterte die Schule, wurde mit den Fingern auf die Lehrer gezeigt, sie seien faul und unfähig. Da konnte Sally nur lachen. Obwohl sie keine volle Lehrverpflichtung hatte, spürte sie beinahe täglich jeden Knochen. Bei vielen älteren Kolleginnen und Kollegen, die es sich finanziell nicht leisten konnten, Teilzeit zu arbeiten, genügte ein Blick ins Gesicht: Das Zerstörungswerk von zwanzig Jahren Heroin oder Straßenstrich hätte keine schlimmeren Spuren hinterlassen können.
Dabei war das Gymnasium, an dem Sally unterrichtete, keine
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