Alles über Sally
respektieren. Bei Erik vermutete sie darüber hinaus, dass ihn Schuldgefühle plagten, deutlich mehr als sie, bei ihr waren es null, überraschenderweise. Und nicht genug, dass sie ohne schlechtes Gewissen mit einem Freund ihres Mannes schlief, sie fand es auch okay, dass sie versuchte, ihren Mann dafür einzuspannen, dass er ausspionierte, wie es um die Ehe ihres Liebhabers stand. Andere wurden schon für weniger aufgehängt.
»Frag ihn doch einfach, warum er Nadja so viele Geschenke macht«, sagte sie. »Vielleicht ist die Ehe besonders gut oder geht gerade den Bach runter, mich würde es interessieren.«
»Ich werde ihn fragen«, sagte Alfred entschlossen.
Ich sollte alles bisher Geschehene aufschreiben, ein Exposé daraus machen und es an Random House schicken, dachte Sally. Der große europäische Roman . Und das Ganze so geschrieben, als Idylle des bürgerlichen Beziehungswahnsinns, dass dem Buch weder eine Handvoll Druckfehler noch eine miserable Ausstattung, noch alberne Reklame und aberwitzige Kritiken etwas anhaben können, ja, genau. Unter dem Pseudonym Marie-Therese Kotany würde es sich gut verkaufen, oder besser, um auch auf den englischsprachigen Märkten bestehen zu können, Hester Prynne, wie wär’s damit, beeindruckend, ja.
Zur Beruhigung ihrer Nerven ging Sally ans offene Küchenfenster, das die Einbrecher als schwächsten Punkt des Hauses ausgemacht hatten. Der Rahmen und die Scheibe waren neu, aber der Ausblick bot das gewohnte Bild. Nur die Blätter der Bäume waren in den vergangenen Tagen fleckig geworden. Der sanfte Geruch von frisch geschnittenem Gras und mit Trinkwasser benetzter Erde erfüllte die Luft. Ein Weberknecht kletterte auf das steinerne Fensterbrett, er wartete still auf die Rückkehr des Sommers.
Auch Alfred kam heran. Er küsste Sally auf den Nacken – besser als auf den Mund. Das dachte sie. Unhöflich? Was soll’s, sie fühlte sich dazu berechtigt. Alfred spürte, dass Sally nicht recht anwesend war. Sie schien ihm sehr fern. Er brummte gequält, äußerte aber nichts Verständliches.Stattdessen küsste er ein zweites Mal ihren Nacken, dort, wo die Halskette lag.
Einige Tage nachdem Erik ihr die Kette zum Geschenk gemacht hatte, hatte Sally eine alte Freundin getroffen, und am Abend war sie mit der Kette um den Hals nach Hause gekommen. Alfred hatte sie nie kommentiert, obwohl Sally sie seither ohne Unterbrechung trug.
Nach dem neuen Parfum hatte er sich immerhin erkundigt, ohne Wertung. Sie hatte ihm bestätigt, dass er richtig liege, ja, der Duft ist neu. Aber den Namen des Produkts hatte sie verschwiegen.
»Wenn ich dir heute nochmals einen Heiratsantrag machen würde?« fragte er jetzt.
»Würde ich ihn ablehnen«, sagte sie herausfordernd.
»Und die Kinder?« fragte er enttäuscht.
»Würden nicht geboren werden, weil ich heute ja schon zweiundfünfzig bin.«
»Dann bin ich froh, dass ich dich schon früher geheiratet habe.«
»Ich bin mir sicher, dass es so ist«, sagte sie.
»Ach, Sally!«
»Was denn?« fragte sie. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Die Kinder sind jedenfalls das Beste, was dabei herausgekommen ist.«
»Ich platze vor Stolz, wenn ich an sie denke«, sagte er.
Diese Aussage erschreckte Sally. Sie drehte sich um und schaute Alfred forschend an unter Berücksichtigung der Nachkommenschaft, die sie mit ihm in die Welt gesetzt hatte. Alfreds Hoden erschauerten in einer schönen Koinzidenz. Er drückte das zuckende linke Auge zu und glättetedas Lid mit dem Daumen der Rechten, dann schüttelte er sich nervös. Sally sah den Glanz des Schweißes auf seiner Stirn, tiefe Runzeln, ein massiger, übergewichtiger Mann mit Sorgen, ja, gut, sie hatte ebenfalls Sorgen. Die beiden standen stumm da, in einem jener Augenblicke, in denen zwei Menschen eine Bilanz ihres beiderseitigen Verhältnisses ziehen, jeder aus seinem Blickwinkel, sie dachten darüber nach, was ihnen das gemeinsame Leben gebracht hatte und noch bringen sollte. Alfreds Herz schlug schneller beim Blick in die Vergangenheit und füllte sich mit Furcht vor dem Unbekannten, wenn er in die Zukunft schaute. Sally indes fragte sich, was wäre, wenn Alfred plötzlich stürbe. Nicht dass sie ihm den Tod wünschte, einfach nur: Was wäre wenn. Wie würde es sich anfühlen? Wäre es eine Befreiung oder eine Belastung? Oder Trauer, weil sie Alfred geliebt, am Ende aber keinen Platz mehr dafür gelassen hatte?
Dieser Gedanke verursachte ein plötzliches Gefühl der Zärtlichkeit. Sally
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