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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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waren.
     
    Auf der Landkarte waren Sehenswürdigkeiten in bunten Farben abgebildet: Das Krantor zu Danzig, die Marienburg an der Nogat, Frauenburg, Braunsberg. Über der Ostseeküste ein Strandkorb, eine junge Frau mit Gummitier unter dem Arm ging gerade ins Wasser.
     
    Nach dem Essen nahmen sie sich den Koffer der Tante vor, was da alles drin ist. Obenauf lag das goldene Medaillon der Mutter! – Taschentücher, Schlüpfer, Unterhemden, Blusen ... Briefe, Fotos: das Foto von dem schlesischen Eselsgespann. Und drei silberne Teelöffel! Als der Pastor die Teelöffel sah, sagte er: «Genau solche Teelöffel haben wir zu Hause gehabt ... als Kind, von den Urgroßeltern noch, dünnes Silber, weil schlechte Zeiten waren.» ... Drei Stück? und er nahm einen von diesen feinen dünnen, etwas verbeulten Dingern in die Hand: Ob er nicht einen abhaben kann? fragte er. Er würde sich so sehr darüber freuen? Genau solche Löffel hätten sie zu Haus gehabt. Immer Reineclauden damit gegessen, nach jedem Mittagessen Reineclauden. Grießbrei mit Reineclauden.
     
    Peter nahm sein Mikroskop aus dem Kasten und stellte es auf. Das Blut der Tante. Wie sah es aus? Er schabte es vom Mantel und sah es sich an. Krustiges Zeug war es, das keine Geheimnisse barg.
     
    Als der Pastor hörte, daß Peter aus Georgenhof käme und von Globig heißt, stutzte er. Vor zwei Tagen war eine junge Frau hier gewesen, eine Geigerin. Die habe Georgenhof erwähnt, daß sie dort nichts zu essen bekommen hätte und rausgeschmissen worden wäre. Unfreundliche, halbverblödete Adelige. Geizig.
     
    Ob ihn das nicht nachdenklich mache, fragte der Pastor, er empfange ihn hier mit warmem Holunderbeersaft, und eine Schlafstatt stehe auch bereit, und noch vor Tagen habe man einem einsamen Mädchen auf Georgenhof die Tür gewiesen!
     
    Nein, sagte Peter, das sei ganz anders gewesen! Bratkartoffeln und Blutwurst habe sie bekommen, und hinterher Stachelbeerkompott!
    Der Pastor glaubte ihm nicht, der lächelte fein, was heißen sollte: Ich verstehe das, mein Junge, du willst das Nest nicht beschmutzen ... und er hielt an seiner Version fest. Eine schöne Predigt ließe sich darauf aufbauen.
     
    Nun erzählte Peter von Georgenhof, wie gastfrei man auch andere Flüchtlinge aufgenommen habe. Von dem Morgenstern auf dem Giebel erzählte er, vom Teepavillon am Ufer des Flusses Helge, von Lampionfesten im Park und vom weißen Mausoleum seiner Schwester. «Sieben Stufen führen zu ihr empor, und eine Schneise führt auf sie zu.» Von Zimmerfluchten in Georgenhof erzählte er und von Kristallleuchtern. Und von der Hausorgel in der Bibliothek, auf der seit seines Großvaters Tod kein Mensch mehr gespielt hätte ...
    «Hatte sie ein oder zwei Manuale?» fragte der Pastor dazwischen, und Peter blieb die Antwort schuldig.
    Peter sagte: Merkwürdig – manchmal sei es ihm so gewesen, alsob in der Nacht jemand auf dem Instrument gespielt hätte. Und dabei gab er seinem Blick etwas Träumerisches. Wenn er oben in seinem Zimmer unter der Lampe gesessen und gelesen hätte oder mikroskopiert, dann wär’ es ihm so gewesen, als ob von unten klar und deutlich die Orgel zu hören gewesen sei.
    Er sprach im Imperfekt. Aber in diesem Augenblick meinte er das Instrument zu hören, das es ja nie gegeben hatte.
    Von den erdbraunen Gestalten, die geduckt an ihm vorübergehuscht seien, ließ er nichts weiter verlauten, die behielt er diesmal für sich.
     
    Der Pastor kannte Mitkau, er hatte dort mal gepredigt. «Mein Kollege Brahms dort war Deutscher Christ, du weißt, was das bedeutet?» Deutscher Christ? Vor dem habe man sich in acht nehmen müssen. Deutscher Christ sei er gewesen, dem Hitler Treue geschworen, und dann auf einmal umgeschwenkt. Wach auf, wach auf, du deutsches Land ... Bei der Renovierung der Marienkirche mit Heil Hitler! gegrüßt, Arm hoch und so weiter ...
    Es gäbe Menschen, die hätten ein sehr weites Gewissen.
    Jetzt verhaftet wegen einer dubiosen Geschichte, von der man nichts Genaueres wisse. Vielleicht was Sittliches?
     
    Die Geigerin – er sei noch ganz erfüllt von der Begegnung mit dieser Frau. Sie habe ihr Instrument ausgepackt und in der Kirche gespielt. Und all die Leute, die am nächsten Tag abfahren wollten, seien herbeigeströmt und hätten sich das stehend angehört, wie sie da so wundervoll spielte. Töne wie aus dem Jenseits! Geradezu überirdisch schön. Musik, wie sie noch nie in dieser Kirche erklungen sei.
    Wie angewurzelt wären die Menschen
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