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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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dagestanden. Sie hätten es in diesem Augenblick gewußt: Jetzt gilt es Abschied nehmenvon der Heimat, «nun ade, du mein lieb’ Heimatland ... ». – Und so ein liebes Wesen von der Schwelle zu weisen? Dazu gehöre schon was!
    «Hattet ihr euch das auch richtig überlegt?»
    «Ja», sagte Peter, «sie hat auch Schlager gespielt, und ein einarmiger Soldat hat sie begleitet, und von der Blutwurst hat sie sich zweimal genommen!»
    «Einarmig?» sagte der Pastor. «Mein Junge, du mußt nicht so übertreiben. Ein Einarmiger kann doch nicht Klavier spielen ...»
    Er war noch in Gedanken bei seiner Geigerin. Wie sie das blonde Haar hinter sich geschüttelt hatte und dann kraftvoll angestrichen, und mit dem ersten Ton hatte sich die Ewigkeit der deutschen Musik – sei es, wie es wolle – in der Kirche ausgebreitet.
    «Manche Bäuerin ist hinterher zu mir gekommen», erzählte er, «und hat gesagt: So was Schönes haben wir noch nie gehört.»
     
    In der Studierstube stand ein Harmonium. Der Pastor trat die Bälge und drückte einen Choral heraus aus dem Instrument. «So nimm denn meine Hände und führe mich ... » Auch das hatte mit der Ewigkeit der deutschen Musik zu tun. Der linke Balg des Harmoniums war gerissen, er konnte nur den rechten treten, dadurch bekam die Melodie etwas Ruckhaftes. Aber sie war doch ohne weiteres auszumachen.
    «Wollen wir beten, mein Junge?»
    Ja, das war nun etwas sehr Seltsames. Am Küchentisch sitzen, vorm Holunderbeersaft, und irgendwie beten?
    Peter mußte an das goldene Medaillon der Mutter denken, das obenauf im Koffer der Tante gelegen hatte. Er hatte es in seine Hosentasche gesteckt, und es lag mit der Kette wie ein Rosenkranz in seiner Hand.
    Am Abend ging Peter noch einmal in die Kirche hinüber zu den Toten, es waren inzwischen mehr geworden. Zwei Säuglinge waren dazugekommen. Das Mädchen mit den Strapsen wollte er sich genauer ansehen.
    Die Tante gehörte nun schon nicht mehr zu ihm. Sie lag mit verdrehten Beinen unter der Decke, von Schnee zugeweht. Der Schnee war durch die Tür gestaubt, der hatte die Toten bedeckt. Der abgerissene Arm an ihrer Seite, die Ringe an ihrem Finger und die verdrehten Beine.
    In der Dunkelheit suchte er die Trümmer der Kutsche noch einmal mit der Taschenlampe ab. Der kleine Blumenkranz an der ovalen Rückscheibe fiel ihm auf, den nahm er mit.
    Der Wallach lag auf dem Rücken, die Beine abgestreckt. Nun auch schon ganz von Schnee bedeckt.
     
    Katharina saß zu dieser Zeit im warmen, überheizten Zimmer des Beamten, Heil Hitler, mit Persianermütze auf und schwarzen Hosen in den schwarzen Reitstiefeln. Auf dem Schoß hatte sie ein Päckchen belegte Brote, die hatte ihr jemand geschickt. Wer, das durfte der Beamte nicht sagen.
    Der Beamte sah in die Akte hinein, die vor ihm lag. Sie war dünn, es lagen nur zwei, drei Blätter darin: Frau von Globig hat zugegeben, einen Juden versteckt gehabt zu haben , stand darin. Und das hatte sie unterschrieben.
    «Und dann haben Sie ausländische Sender abgehört? Frau von Globig? Der Oberwart Drygalski hat das ausgesagt?»
    Nein, das hatte sie nicht, und das hatte sie auch nicht unterschrieben. Kopenhagen ja, aber nicht BBC.
    Fragen hin und her. «Was wird mit mir?», das fragte sie nicht. Es war eher so, als wollte sie sagen: Jetzt hab’ ich endlich meine Ruhe.
    Vielleicht dachte der Beamte: Was wird mit mir ? Wie soll ich mich dieser Situation entziehen? Die Russen vor den Toren? Wie bringe ich mich in Sicherheit? Den ganzen Stall voll Verbrecher – die kriegen dann doch Oberwasser, wenn’s andersherum kommt. Die schneiden mir doch die Gurgel durch!
    Die ganze Stadt war schon auf und davon, und er saß hier mit siebenundzwanzig Häftlingen an? Mit Leuten, die nicht viel Federlesens machen würden. – Daß die Stullen der Frau von Globig sehr gut belegt waren, hatte er schon gesehen.
    Morgen gleich dickere Suppe ausgeben lassen für alle Mann, und dann vielleicht eine Dienstreise antreten?
    Würde man das irgendwie schaukeln können?
     
    An Peter dachte Katharina nicht – der kommt schon durch –, und an das Tantchen auch nicht. Und an den Herrn Hirsch, der über das alte Rosenspalier in ihr Zimmer eingestiegen war, schon gar nicht. Sollte sie sich erkundigen, wie’s dem geht? Vielleicht saß er ein paar Zellen weiter? Seine verschrammten Hände sah sie vor sich, die sie bepflastert hatte. Und die abgeschnittenen Fingernägel auf dem Waschtisch.
    Gern hätte sie mit dem Beamten gesprochen über eine
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