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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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Und: «Sie hat unserem Peter das Leben gerettet.» Und die Aktentasche mit den Papieren und Fotos ...
    Das Fotoalbum aus der Ukraine: Ausritt in weißer Uniform. Ein Gruppenfoto, und im Hintergrund, kaum zu erkennen: mit Tinte auf dem Büttenrandfoto ein verlaufener Pfeil: «Unser General».
     
    Wenn ich mit dem Ackerwagen hätte losziehen müssen, das hätte ich nicht geschafft, dachte das Tantchen, der schwere Wagen, und zwei Pferde lenken – schon allein das Anschirren, und die verschiedenen Zügel irgendwie über Kreuz?
    Sie freute sich, daß sie auf ihre alten Tage das noch konnte, hier durch die Gegend kutschieren, und unter diesen Umständen.
    Während sie den Wallach zügelte, immer hinter dem Vordermann her, hatte sie sogar ein Auge auf die Landschaft, die bereiften Bäume und einzelne Krähen.
    Wenn das alles hier vorbei ist, gehe ich wieder nach Schlesien, dachte sie. Irgendwann einmal werde ich in Schlesien noch Mohnkuchen essen. Hier war man ja beim Deibel auf der Rinn.
     
    Nun näherten sie sich einem Dorf mit einer kleinen Kirche. Eine neugotische Kirche, in preußischen Ziegeln erbaut, über dem Portal ein segnender Christus aus Zement.
     
    Da kam ein einsames Flugzeug geflogen, langsam die Straße entlang, über den Treck dahin. Es wackelte und warf Bomben auf die Wagenkolonne, man konnte die Bomben sehen, wie sie heruntersegelten. Eine davon fiel neben die kleine Kutsche mit dem Tantchen und dem fest schlafenden Peter. Der Wallach stieg brüllend auf und fiel über die Deichsel, und das, was von dem Tier übrig war, streckte sich. Die Kutsche stürzte um, und Peter lag im Freien.
    Das Flugzeug kam noch einmal zurück, der Pilot wollte wohl wissen, ob er getroffen hat. Machte er Striche auf seinen Schreibblock? Einen, zwei, drei, vier, fünf Pferdewagen der faschistischen Mordbrenner vernichtet?
    Zur Sicherheit schoß er noch einmal mit dem Maschinengewehr die Kolonne entlang. Dann zog er eine Schleife über das Feld hinweg und holte neue Bomben.
    Das Tantchen hatte es erwischt, Helene Harnisch war tot. Geboren 1885, gestorben im Januar 1945, unverheiratet. Zwei Monate vor ihrem sechzigsten Geburtstag. Es hatte ihr die Brust aufgerissen.
    Hinter der Kutsche staute es sich, da lagen andere Wagen aufder Seite, und man hörte Wehklagen. Schließlich kamen Männer und schoben die Trümmer der Fahrzeuge zur Seite, Platz schaffen für den großen Treck, der an ihnen vorbeiwollte. Frauen legten die Toten in den Straßengraben, auch das tote Tantchen. Nun konnte es in Gottes Namen weitergehen.
     
    Peter setzte sich neben das Tantchen. Zwei goldene Ringe an der Hand des abgerissenen Arms. Das rote Blut im Schnee. Sollte er ein Vaterunser beten? «Es ist alles nicht so einfach ... ?» Die Wagen fuhren an ihm vorüber, einer nach dem anderen, er sah sie alle, und alle sahen ihn, den Jungen mit dem Fernglas vor der Brust und der Luftpistole im Gurt. Von in die Luft gepulvertem Waschpulver gesprenkelt saß er da.
    Nach einer Weile kam ein Mann aus dem Dorf, das war der Pastor, der wollte die Toten wegtragen. Er half Peter, das Tantchen auf eine Decke zu rollen, den linken, abgerissenen Arm legte er dazu. Er war im Schultergelenk herausgerissen und außerdem noch gebrochen.
    Sie trugen die alte Frau zur Kirche, legten sie in den Vorraum, neben den Opferstock und den Kasten mit den Gesangbuch- nummern. An der Wand die Tafel mit den Namen der Gefallenen von 70/71 und 14/18.
     
    Es lagen schon mehrere Leichen in der Kirche – manche blutete noch –, der Größe nach geordnet, darunter auch Kinder, ein Mädchen mit langen braunen Strümpfen. Ein Rockzipfel hochgeweht, über den Strümpfen die Strapse und eine handbreit blanke Haut. Weinende Menschen daneben, aber sie hielten sich nicht lange auf, sie mußten weiter, weiter!
    «Wann kommt ihr denn endlich?» wurde gefragt. «Wir müssen weiter.»
     
    Während der Pastor eine Decke über das Tantchen legte, ging Peter in die kalte Kirche hinein und aus einer anderen Tür wieder hinaus, um die Kirche herum und vorne wieder hinein. Und dann setzte er sich in die erste Reihe, unter die Kanzel. Später einmal könnte er erzählen: «Als das Tantchen tot war, setzte ich mich in die Kirche, und ich saß lange dort.»
    Das Tantchen war tot, ausgelöscht, als hätte man eine Decke glattgezogen.
    Die Decke ist strammgezogen worden, dachte Peter. Schwamm drüber? Er mußte an das Bleigießen zu Weihnachten denken, wenn die Münze aus Blei über dem Feuer allmählich die
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