Alles Umsonst
sich über das Flüßchen. Schwer hatte die Gemeinde an den Kosten dafür zu tragen, seit 1927 zahlte sie daran ab, und noch viele Jahre würde sie den städtischen Etat belasten!
Katharina fuhr dem Turm der Stadtkirche entgegen. Schon von weitem sah man linkerhand den grün gestrichenen Bogen der Brücke und geradeaus den Turm der Stadtkirche mit den Giebeln von Rathaus und Kloster. Ganz rechts war der Schornstein der Ziegelei auszumachen.
Als das Städtchen auf einer Briefmarke verewigt werden sollte – ein Olympiasieger im Speerwurf war Sohn der Stadt, und Hitler war zweimal hier gewesen –, setzte es der Gauleiter durch, daß auf der Briefmarke ganz groß die Brücke zu sehen war; Kirche, Rathaus und Kloster lagen wie Beiwerk daneben. GROSSDEUTSCHES REICH stand darunter. Der vergrößerte Entwurf des Postwertzeichens war im Vorraum des Rathauses in einem Glaskasten lange zu besichtigen gewesen. Wer sich auf dem Einwohnermeldeamt die Lebensmittelkarten holte oder Bezugscheine für Mangelware, der hatte das Bild betrachten können. Wer hätte das gedacht, daß unser Städtchen irgendwann einmal auf einer Briefmarke erscheint! Doch jetzt im Winter 1945 war der Kasten abgenommen worden. Nun war davon nicht mehr die Rede.
Die Helge war ein kleiner Fluß, fast nur ein Bach zu nennen, ohne Dramatik schwang er dahin. Die Klosterbrüder hatten einst eine Mühle mit ihm angetrieben, das Mühlrad war natürlich längst zerbrochen. Jetzt liefen Jungen dort Schlittschuh.
In einigem Abstand floß die Helge auch an Georgenhof vorüber. Die Globigs hatten immer mal vorgehabt, mit dem Ruderboot flußauf nach Mitkau zu fahren. Umgekehrt, das wäre leichter gewesen, sich hinuntertreiben zu lassen wer weiß wohin. Flußabwärts landete man irgendwann im Frischen Haff ... Im Sommer konnte man gelegentlich trockenen Fußes von einem Ufer zum andern gelangen. Die Kinder sprangen von Steinzu Stein, wenn sie zur Klosterschule mußten, dadurch sparten sie den Umweg über die Brücke. Jetzt hätten sie bequem übers Eis schliddern können, aber das war ja nicht nötig, weil der Schulbetrieb eingestellt worden war. In den Klassen saßen jetzt alte Menschen mit gefalteten Händen. Aus Tilsit waren die Leutchen gekommen, in einem geschlossenen Transport, und nun saßen sie hier und warteten darauf, daß irgend etwas geschehen würde mit ihnen. Zu Weihnachten war im Refektorium ein großer Weihnachtsbaum aufgestellt worden, und eine BDM-Gruppe hatte Lieder gesungen, Glühwein und braune Kuchen verteilt. An der Nordseite des Refektoriums war ein übergroßer Christophorus zu erkennen, der war von der einst so reichen Ausstattung des Klosters übriggeblieben.
Die Schule benutzte den zart eingewölbten Raum als Aula und zum Turnen, und nun saßen die Alten dort an langen Tischen und löffelten ihre Suppe.
Manchmal sah man die Alten im Kreuzgang auf und ab gehen, an den dort aufgestellten Grabsteinen entlang. Und manchmal saßen die Männer auch in den Fensternischen und spielten Skat. Das hatte ganz aufgehört, seit das Thermometer Tag für Tag nur Kälte anzeigte.
Katharina fuhr am zerstörten Bahnhof vorüber, dessen vom letzten Angriff noch rauchende Trümmer von Häftlingen aus der Ziegelei beiseite geräumt wurden, und hielt vor dem Rathaus. Backsteingotik 14. Jahrhundert! In keinem Kunstbuch verzeichnet, aber hübsch. Ein gotischer Treppengiebel neigte sich zum Markt hin, oben mit einer Eisenstange am endgültigen Herunterfallen gehindert. Vor dem Eingang stand eine granitene Säule, an der noch die eiserne Kette hing, mit der man im Mittelalter Übeltäter gefesselt hatte.
Katharina grüßte zwei alte Leute, die aus dem Rathaus kamen. Wie’s ihnen geht, fragte sie. «Danke, es geht so hin», sagten die Alten, zwei Söhne im Osten vermißt, und die Tochter mit ihren epileptischen Anfällen kann man nie unbeaufsichtigt lassen. Hitlerjungen räumten die Straße von Schnee. Ein SA-Mann sagte ihnen, wie sie’s machen sollen, und er fragte sich, was das wohl für einen Sinn hat, daß die Jungen sich mit Schneebällen bewerfen. Ob das wohl mit dem Ernst der Lage zu vereinbaren ist?
Vom Markt her kam eine Volkssturmeinheit marschiert, alte Männer in den unterschiedlichsten Uniformen mit Hut auf dem Kopf und langen Flinten auf dem Rücken. Auf den Armbinden stand: «Volkssturm».
Katharina legte ihre Pelzdecke über den Wallach, und das Tier setzte einen Äpfelhaufen in den frischen Schnee. Mit den Augen
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