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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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als sei sie erleichtert. Ihre kleinen Sessel, der Tisch mit dem Obstteller. Und die Bücher! Es war alles beim alten.
    Doch es war keine Zuflucht für und für, hier würde sich noch in dieser Stunde ein Abenteuer ereignen, und das würde kein Spiel sein.
    Katharina trat in den Wintergarten und sah hinaus. Es war alles ganz still. Der Mond war so klein geworden wie ein Brennglas, sein Licht warf den Gitterschatten der Eichen auf den Schnee.
     
    Katharina legte sich auf das Bett, sie hatte ihre Stiefel nicht ausgezogen, und sie blätterte in einem Fotoalbum: der Wanderer-Wagen auf den Serpentinen des St. Gotthard, der Blick in das tiefe felsige Tal? Sie hatten immer auf eine Panne gewartet. Aber der Wagen hatte den Berg spielend leicht genommen. Drüben, in Italien, hatte es geregnet. Hier Sonnenschein, dort Regen. Und sie hatten gedacht, es würde genau umgekehrt sein. Eberhard, wie er in die Sonne blinzelte. «Mißglückt! » hatte sie mit weißer Tinte unter das Foto geschrieben.
     
    Sie horchte in das Haus hinein: Jetzt gingen auch die andern zu Bett. Peter ließ den Hund noch kurz raus, dann schlug die Tür, und auch die Tür des Tantchens klappte.
    Katharina horchte ins Haus, und sie horchte nach draußen. Und sie wußte nicht, daß auch das Tantchen an der Tür stand, drüben, und auch horchte und durch das Schlüsselloch guckte, aber es war alles dunkel.
     
    Katharina legte das Album zur Seite. Sie hatte Angst. Ich habe die nackte Angst! dachte sie und guckte in den Spiegel. Es war ein Gefühl, das sie zuletzt in ihrer Schulzeit gehabt hatte, Berlin, als man ihr Mädchentagebuch gefunden hatte. Sie hatte etwas eintragen wollen, und da war es weg gewesen.
     
    Die Hochzeit in der finsteren Kirche. Bis daß der Tod euch scheidet? Ob sie es mit Eberhard ein ganzes Leben aushalten würde: Steige hoch, du roter Adler?
    Pastor Brahms hatte nicht gelächelt, er war sehr ernst gewesen: «Bis daß der Tod euch scheidet.»
    Und der Traum in der Nacht davor? Von Eberhard hatte sie geträumt: Er hatte lange Damenhandschuhe angehabt und hatte gesagt: «Ich muß nach den Kühen sehen.»
     
    Sie stand noch einmal auf und ging zu Peter hinüber. Das tat sie sonst nie, aber nun setzte sie sich an sein Bett und sah sich um in dem kleinen Zimmer. Die Eisenbahn, die sich durch Tunnels wand, Socken und Hosen auf dem Fußboden, Stiefel in die Gegend geknallt. Die Papierflugzeuge unter der Zimmerdecke. Was für ein ärmliches, kleines Leben?
    In der Mitte des Zimmers stand die Spielzeugburg mit Rittern hinter den Mauern. Die Zugbrücke war hochgezogen.
     
    Früher hatte sie jeden Abend mit den Kindern gebetet, so kannte sie es von zu Hause, aber als Elfie starb, war es dann aus gewesen mit dem Beten. Jetzt hätte sie es gern getan, breit aus die Flügel beide und nimm dein Küchlein ein ..., aber das ging nun nicht mehr. Sie brachte die Hände nicht zusammen und den Mund nicht auf.
    Magische Worte standen ihr nicht zu Gebote, und Zaubersprüche hätten nicht gepaßt. Und das Kreuz hatte sie nie geschlagen.
    Den Jungen mit hinübernehmen zu sich? So wie sie es früher bei Gewitter getan hatte? alles verrammeln? – Sie sah sich mit dem Drilling am Fenster stehen, der Junge daneben, auch mit einem Gewehr, und sie würden sich verteidigen bis zum letzten.
    Sie guckte sich fest, und der Junge guckte sie an.
    Er sagte nicht «Hast du was?» oder «Was ist los?» Er schwieg und sah seine Mutter an. Wie lange würde es dauern?
    Endlich sagte sie «Gute Nacht», und das sprang ihr wie eine Kröte aus dem Hals.
     
    Katharina hatte Angst, aber sie war auch ein wenig stolz darauf, daß sie sich durchgerungen hatte und «Ja! » gesagt zu dem Abenteuer, das es nun zu bestehen galt. Niemals hatte man ihrirgend etwas zugetraut, und das, was nun geschehen würde, hätte man nicht für möglich gehalten. Sie selbst nicht! Nie im Leben. Stolz war sie, aber gleich daneben saß die Angst.
    «Das ist die kalte, nackte Angst», sagte sie laut.
    Und sie dachte auch daran, daß das eine Lüge sei, die nun Gestalt annehmen würde: Ging es ihr denn darum, einen Menschen zu retten, oder wollte sie es sich nur beweisen, daß sie sich etwas zutraute? Die Lust, etwas ganz Verrücktes zu unternehmen, so wie damals mit Lothar Sarkander. Würde man das Eberhard erzählen müssen, wenn alles vorüber war?
    Wann würde denn alles vorüber sein?
     
    Im Fotoalbum lag alles beschlossen: Der Gardasee – glatt und grün hatte er dagelegen; die weißen Boote. Der

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