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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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erklären? Wie sollte man das verstehen?
    Wie gut, das dachte er auch, daß unser Sohn schon in Polen gefallen ist, sonst müßten wir jetzt jeden Tag Angst um ihn haben.
     
    Er ließ die Hand der Frau los – mal eben mit Mitkau telefonieren, ob morgen wieder welche kommen aus dem Osten, und dann die Listen durchgehen, wohin man sie stecken kann. Die meisten blieben ja nur ein paar Tage. Das war ein dauerndes Kommen und Gehen.
    An der Treppe zögerte er einen Augenblick. Er ging hinauf und setzte sich in das Zimmer seines Sohnes und sah aus dem Fenster. Und er sah im Mondschatten die langen schwarzen Striche der von Schnee freigewehten Ackerkrume.
     
    Drüben im Georgenhof trat Katharina an die Tür und legte das Ohr ans Schlüsselloch. Der Hund schlug an: Er hörte die Mädels, die schwatzend zurückkehrten von ihren Unterhaltungsfreuden. Sie heraufholen? Oder sich zu ihnen setzen? Das wäre nicht gegangen. Was will die denn hier?
    Sie dort, wir hier – da gab es keine Gemeinschaft.
     
    Sie ging in den Wintergarten, löschte das Licht, nahm den Vorhang zur Seite und sah hinunter in den dunklen, vom Schnee erhellten Park. Der Halbkreis des Trampelpfades auf dem Rasen zeichnete sich deutlich ab.
    Sie legte sich eine Decke um die Schultern. Die Kakteen eingeschrumpft, die Pflanzen trocken.
    Die großen und die winzigen Sterne, das funkelte und strahlte. Der Mond glitt höher und höher. Das Geäst der Eichen stand vor der leuchtenden Urzeitscheibe. Die Linien der Hand, Schicksalslinien, wie die Linien des Lebens.
     
    Ein einsames Flugzeug brummte über den Nachthimmel. Der Pilot würde die Gehöfte liegen sehen, Georgenhof im Schnee. Auch die ordentliche Siedlung, ein Haus wie das andere, auch Mitkau mit den krummen Gassen. – Den Halbkreis des Trampelpfades im Schnee würde er vielleicht für ein Signal halten, für eine Botschaft, unverständlich und rätselhaft?
    Vielleicht würde er ja auch den einzelnen Mann sehen, der gerade jetzt neben der Straße dahinschlich, einen Zettel in der Hand. Ein Mensch, der sich selbst verfluchte.
     
    Katharina stand am Fenster, vom Mondlicht bleich beschienen. Wer würde es sein?
    Ein vornehmer alter Herr vom 20. Juli, ein Offizier in Zivil, Schmisse an der Backe? Ein Herr alter Schule. In Friedenszeiten ausgeritten im Grunewald. Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, dreimal verwundet. Ein solcher Mann würde wohl nicht die Staketen hinaufklettern können. Und würde er als Offizier denn auf allen vieren in die Abseite kriechen wollen?
     
    Ein junger Offizier würde willkommen sein. «Zwei in einer großen Stadt», in dem Film kam ein junger Leutnant vor, tadellose Figur, Eisernes Kreuz: In Berlin ist er auf der Durchreise ... Und mit seiner Dreitage-Freundin trinkt er eine Tasse Kaffee.
     
    Zwei in einer großen Stadt,
    die ein gold’ner Traum verzaubert hat ...
     
    Ein junger Leutnant, vielleicht aus irgendwelchen Ehrengründen desertiert? Aufgebraust und in der Tinte gelandet, wie junge Leute eben sind? nur eben einen Zivilmantel über die Uniform geworfen und durch die Dunkelheit gehetzt ... Wider Willen flüchtend, denn im Grunde war er doch dafür ? War denn alles umsonst gewesen? Die Panzerkolonnen, nebeneinander, hintereinander, auf breiter Front durch die Weizenfelder des Ostens, und er hatte im Turm gestanden! Das waren Zeiten gewesen?
     
    Vielleicht käme ja auch ein Zivilist, in schäbigem Anzug? Gestopfte Fingerhandschuhe. Vielleicht ein Künstler, der den Mund nicht hatte halten können, vielleicht ein Organist. Konnte das Morden nicht mehr ertragen und hatte sich falschen Freunden anvertraut und mußte nun sehen, wie er seine Haut rettete. Frau und Kinder zu Haus.
    Vielleicht würde ja auch jemand Zuflucht suchen, der einem anderen Unterschlupf gewährt hatte? Ein ganz anderer Fall?
     
    Sie setzte sich an den Schreibtisch. Zum ersten Mal hatte sie das Bedürfnis, etwas aufzuschreiben, das nur sie anging. Aber ihr fiel nichts ein. Was ging sie denn an? – Erst mal mußte mandies hier jetzt hinter sich bringen, dieses Erlebnis, das einem später vielleicht niemand glauben würde! Und danach alles aufschreiben. Jede Einzelheit. Die Gefühle, die Spannung – ja, die Enttäuschung. Vielleicht war ja alles ganz anders?
    Sie nahm die Schere zur Hand und versuchte, aus dem schwarzen Papier eine Blume auszuschneiden, wie sie das immer tat, wenn sie sich beruhigen wollte. Aber es wurde nur ein einziges Geschlinge, und sie warf das fort.
     
    Sollte sie sich

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