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Alles was du wuenschst - Erzaehlungen

Titel: Alles was du wuenschst - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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Verkäuferinnen waren, die ihn nicht mehr wahrnahmen: Er hatte den Sachverhalt verwechselt.
    Die Frau mit der Narbe dagegen nahm ihn wahr. Sie achtete aufmerksam darauf, wessen Augen wohin sahen und wo sie haften blieben, und obwohl sie einen beim Überreichen des Wechselgeldes nicht anblickte, registrierte sie doch jedes Detail. Noel konnte nicht sagen, wie alt sie sein mochte – das gelang ihm bei Frauen nie -, selbst ihre Falten saßen so flach im Gesicht, als hätten sie nicht die Kraft, sich tiefer in ihre Haut einzugraben. Wer würde sich die Mühe machen, sie umbringen zu wollen? Jemand, den sie mit ihrer Langeweile zur Weißglut getrieben hatte. Oder ein Fremder in einem düsteren Gässchen. Mein Gott, eine schreckliche Vorstellung! Aber vielleicht hatte sie sich die Narbe ja selbst zugefügt. Vielleicht hatte sie es in einem plötzlichen Anfall von Stärke getan.
     
    Noel warf die Malteser quer durch die Küche seiner Frau zu, die sagte: »Gott, ich liebe dich.« Dann ging er ins Wohnzimmer, setzte sich und las eine Weile Zeitung.
    »Deine Mutter hat angerufen«, sagte – oder rief – seine Frau aus dem Nebenzimmer.
    »Was? Wann?«

    »Als du weg warst.«
    »Danke«, antwortete er. Und wurde ignoriert.
    Er widmete sich wieder seiner Zeitung, aber jetzt war ihm die Lektüre vermiest. Er faltete die Zeitung zusammen und ließ sie neben dem Sessel zu Boden fallen.
    »Mir wäre es lieb, du würdest mir so etwas mitteilen«, rief er ihr zu.
    »Was?«
    »Mir wäre es lieb, du würdest mich informieren, wenn jemand angerufen hat.«
    »Mein Gott, Noel. Du bist doch eben erst zur Tür hereingekommen.«
    Sie war in die Diele getreten und sah zu ihm hinein.
    »Alles in Ordnung?«
    »Was?«
    Vor zehn Jahren hätte er sie vermutlich darauf hingewiesen, dass er nicht gleich unter irgendwelchen Gefühlswallungen litt, nur weil sie es versäumt hatte, ihm eine telefonische Nachricht zu übermitteln. Aber das war vor zehn Jahren. Heutzutage unterließ er es. Die Lage besserte sich also.
    »Natürlich ist alles in Ordnung.«
    Und er ging in die Diele und rief seine Mutter an.
    Seine Mutter wollte über den Wasserhahn oben reden. Der Wasserhahn oben tropfte schon seit Jahrzehnten, aber da sie jetzt Witwe war, benötigte Noels Mutter etwas, worum sie viel Aufhebens machen konnte. Als wäre sein Vater daran schuld – an dem tropfenden Wasserhahn, den sie nun, da ihr Mann aus dem Weg war, endlich reparieren konnte.

    »Ich weiß es nicht«, sagte Noel. »Vierzig Euro schon für die Anfahrt – jedenfalls hat es beim letzten Mal so viel gekostet, was schon lange her ist.«
    »Vierzig Euro!«
    Seine Mutter war an dem neuen Apparat mit dem tragbaren Hörer, der immer irgendwie aussetzte, wenn sie nichts sagte, sodass man das Schweigen nicht mehr interpretieren konnte. Was wollte sie?
    »Jemand könnte ihn reparieren. Ich könnte ihn reparieren. Liegt wahrscheinlich nur am Dichtungsring.«
    »Nein, nein«, antwortete sie, »so habe ich das überhaupt nicht gemeint.«
    Aber er bestach seine jüngste Tochter, mit einzusteigen, und fuhr trotzdem zu ihr, sein Werkzeug auf dem Vordersitz neben sich. Seine Tochter auf dem Rücksitz dachte sich ein Lied aus und lachte über die Wörter, die sich, wenn er genau hinhorchte, allesamt wie »A-a« anhörten. Noel betrachtete sie ihm Rückspiegel.
    »Würdest du damit bitte …«, sagte er.
    Am Abend zuvor war der letzte rosa Faden gerissen, der einen ihrer unteren Zähne gehalten hatte, und ihr Zahnfleisch hatte wie verrückt geblutet. Nun lachte sie durch die frische Lücke und sang:
    »Und das A-a platschte,
    und wie das A-a platschte!«
    »Ach, hör doch auf«, befahl Noel. Aber sie hörte nicht auf. Also schaltete er die Sportnachrichten ein und hörte sich stattdessen die an.
    Sie rannte zur Tür und klingelte bei ihrer Oma, während Noel hinter ihr den Weg hinaufging und das Gewicht
des Werkzeugs testete, indem er es in seiner hohlen Hand schwang.
    »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst nicht«, sagte seine Mutter, nachdem sie ihre Enkelin geküsst und liebkost hatte. »Ich hatte dir doch gesagt, ich würde jemanden kommen lassen. Das wollte ich wirklich. Ich wollte, dass jemand kommt.«
    »Keine Sorge«, erwiderte Noel.
    Sie lächelte ihn an, als er eintrat. Seine Frau sagte, sie verhielten sich in letzter Zeit wie ein verliebtes Pärchen. Und vielleicht war da was dran. Seit sein Vater gestorben war, telefonierten sie viel häufiger. Sie sprachen über Dinge, über die Noel

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