Alles, was ich will, bist du
sah ihm ärgerlich zu, bis er sich endlich wieder beruhigt hatte. Sie versuchte zu verbergen, wie sehr er ihr Innerstes berührte. Seit ihre Mutter fortgegangen war und nachdem ihre Großmutter sie der Fürsorge des Jugendamts überlassen hatte, war Gracie nur sehr selten bereit gewesen, Menschen an sich heranzulassen.
„Ich habe meine Mathe-Prüfungen nur mit Ach und Krach bestanden“, rief sie schon leicht verzweifelt. „Ich würde eine Aktie nicht einmal erkennen, wenn sie aufspringen und mich ins Bein beißen würde. Von uns beiden hat Steven den Sinn für Mathematik geerbt.“
„Und trotzdem …“, fuhr Rocco gnadenlos fort, „… haben Sie ihn letzte Woche begleitet und sich an mich herangemacht. Sie wussten ganz genau, wer ich bin.“
Gracie schnappte nach Luft. Sie war sich nicht sicher, worüber sie sich mehr ärgerte, über seine Unterstellungen oder die Erinnerung an ihre erste Reaktion auf ihn. „Ich habe mich nicht an Sie herangemacht! Sie sind zu mir gekommen!“
Roccos Wangen röteten sich. Zum ersten Mal hatte Gracie das Gefühl, dass sie ihn mit ihren Worten getroffen hatte. Sofort war er wieder kalt und ungerührt. Und doch glaubte Gracie, ein Brodeln unter seiner gleichgültigen Fassade zu spüren.
Bevor er einen weiteren Angriff starten konnte, gab sie rasch zu: „Ich habe Steven begleitet, weil er sich alleine zu unsicher gefühlt hätte.“
„Sie haben mich immer noch nicht davon überzeugt, dass sie Geschwister sind. Wieso hätten Sie dann unterschiedliche Nachnamen?“
Auch wenn Gracie klar war, dass sie dadurch schuldig wirken musste, wandte sie den Blick ab. „Weil … weil er sich mit unserem Vater zerstritten und den Mädchennamen unserer Mutter angenommen hat.“ Das war nicht einmal gelogen.
„Ganz abgesehen davon, dass Sie ihm kein bisschen ähnlich sehen.“
Gracie sah auf und bemerkte, wie Rocco seinen kritischen Blick über ihren Körper schweifen ließ. Kam es ihr nur so vor, oder war es wirklich plötzlich so heiß im Raum? „Ich weiß selbst, dass wir uns nicht ähnlich sehen. Aber nicht alle …“ Sie brach ab. Fast hätte sie Zwillinge gesagt. „… nicht alle Geschwister sehen einander ähnlich. Er sieht aus wie unsere Mutter, ich wie unser Vater.“
Hätte ihre Mutter sie geliebt, wenn Gracie wie Steven ausgesehen hätte? Diese Frage quälte sie schon ihr ganzes Leben lang. Es war kein Trost, dass ihre Mutter sie beide verlassen hatte. Noch immer erinnerte sie sich an die Nächte, in denen Steven sich in ihrem Arm in den Schlaf geweint hatte, während Gracie sich fragte, warum ihre Mutter gegangen war.
Lange Zeit dachte sie, es wäre ihre Schuld, weil ihre Mutter sie nicht wollte. Erst als sie älter und reifer geworden war, begriff sie, dass ihre Mutter in Wahrheit nie vorgehabt hatte, Steven mit sich zu nehmen.
Plötzlich spürte Gracie, wie sie schwankte. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen. Gerade als sie sich für ihre Schwäche verfluchte, sagte Rocco etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen.
Eine große warme Hand legte sich auf ihren Arm. Sie versteifte sich. Wieso hatte dieser Mann bloß so eine Wirkung auf sie? Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass sie kurz davor stand, ohnmächtig zu werden. Wie jämmerlich! Sie versuchte, ihren Arm wegzuziehen, doch ohne Erfolg.
„Wann haben Sie zum letzten Mal etwas gegessen?“, hörte sie seine Stimme viel zu nah an ihrem Ohr.
Sie lehnte sich zurück und versuchte, ihn wütend anzufunkeln. „Deshalb brauchen Sie nicht so zu tun, als wäre ich ein dummes Mäuschen! Ich habe mir eben Sorgen gemacht und nicht an Essen gedacht.“
Er betrachtete sie von oben bis unten. „Sie sehen nicht aus, als würden Sie oft an Essen denken.“
Er drehte sich um und ging weg. Gracie konnte die Augen nicht von seinem kraftvollen, geschmeidigen Körper abwenden.
„Ich habe ein paar Fertiggerichte im Kühlschrank“, rief er ihr über die Schulter zu. „Kommen Sie mit.“
Rocco de Marco bot ihr Essen an? War sie vielleicht schon ohnmächtig geworden und träumte nur? Sie wandte den Kopf und sah zur Tür. Die Freiheit war nur wenige Schritte entfernt.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, stand Rocco plötzlich wieder neben ihr. „Denken Sie nicht einmal daran“, sagte er täuschend sanft. „Sie würden es nicht einmal bis in die nächste Etage schaffen. Meine Männer sind überall.“
In seinen Augen las sie, dass er nicht scherzte. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich wieder um und ging. Diesmal
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