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Alles, was ist: Roman (German Edition)

Alles, was ist: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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gerahmt auf der Kommode, Fotografien von ihr beim Sprung, dicht über den Hals des Pferdes gebeugt, das auf dem Boden aufsetzt, sie mit schwarzem Reithelm, ihr Gesicht rein und frei von Angst. Sie war eine gute Reiterin, das konnte man sehen, die Leichtigkeit, mit der sie das große Tier unter sich lenkte, das die gespitzten Ohren nach hinten gelegt hörte und gehorchte, der Zug des knarrenden Zaumzeugs, das alles zu beherrschen. Sie und Beverly und Chrissy Wendt, auf dem Weg zurück von einer Pferdeshow, steigen aus dem Truck, ein wenig staubig, in Reithosen; Vivian, ihr auffälliges Gesicht, blond und gähnend, als wäre sie allein und komme gerade aus dem Bett. Zwölf und unbedarft, vielleicht ein wenig verschmitzt.
    Mit acht Jahren taucht sie auf wackeligen Füßen in den hohen Schuhen ihrer Mutter in der Tür zum Schlafzimmer auf, eine imaginäre Zigarette in der Hand. Ihre Mutter sitzt vor dem Frisiertisch und sieht sie im Spiegel.
    »Oh, Liebling«, sagte Caroline, der auch die Perlen auffielen. »Du siehst ja bezaubernd aus. Komm, gib mir einen Zug.«
    Diese Freude. Vivian, die hereinstakst und ihre Hand vor den Mund ihrer Mutter hält. Caroline nahm einen Zug und blies eine unsichtbare Rauchfahne in die Luft.
    »Du hast dich ja so fein gemacht, gehst du noch auf eine Party?«
    »Nein«, sagte sie.
    »Du gehst nicht mehr aus?«
    »Nein. Ich denke, ich werde ein paar Jungen einladen«, sagte Vivian wissend.
    »Ein paar Jungen? Wie viele?«
    »Ach, drei oder vier.«
    »Und du gibst keinem den Vorzug?«
    »Ich weiß nicht. Älteren vielleicht.«
    Das Alter der Nachahmung, wenn es eigentlich keine Gefahren gab, obwohl es darauf ankam. In der Vergangenheit wurden Mädchen mit zwölf verheiratet, künftige Königinnen sogar noch früher. Poes Frau war ein Mädchen von dreizehn Jahren, Samuel Pepys Frau erst fünfzehn, Machado, der große Dichter Spaniens, verliebte sich unsterblich in Leonor Izquierdo, als diese dreizehn war. Lolita war zwölf und Dantes Göttin Beatrice sogar noch jünger. Vivian wusste genauso viel wie sie, im Grunde noch weniger, sie war wie ein Junge, bis sie fast vierzehn war. Sie liebte es, mit ihrer Mutter zu schauspielern. Sie liebte und fürchtete ihren Vater, und seit sie sprechen konnten, stritt sie mit ihrer Schwester, und das so laut, dass Amussen seine Frau mehr als einmal bat, etwas dagegen zu unternehmen.
    »Mommy!«, rief Beverly. »Weißt du, was sie zu mir gesagt hat?«
    »Was hat sie zu dir gesagt?«
    Vivian stand auf halbem Weg im Flur und hörte zu.
    »Sie hat mich einen Pferdearsch genannt.«
    »Vivian, hast du das gesagt?«, rief Caroline in den Flur. »Komm her, hast du das gesagt?«
    Vivian blieb energisch.
    »Nein«, sagte sie.
    »Lügner«, rief Beverly.
    »Hast du es gesagt oder nicht? Vivian?«
    »Pferde hab ich nie gesagt.«
    Sie stritten sich nicht immer, aber es konnte immer dazu kommen. Als sich mit der Zeit zeigte, dass Vivian die Schönere sein würde, verhärteten sich die Fronten, und Beverly entwickelte ihren ganz eigenen grobknochig beißenden Stil. Vivian dagegen wurde immer femininer. Dennoch machten sie alles gemeinsam. Sie waren zusammen auf die Jagd geritten, seit sie sieben oder acht Jahre alt waren, und Vivian war der Liebling des Jagdführers. Richter Stump, der sich in diesen Dingen auskannte, bewunderte ihre Figur. Wenn er sie in ihren enganliegenden Jagdkleidern sah, stellte er sie sich mit gewissen unväterlichen Gedanken ein paar Jahre älter vor – obwohl er natürlich nicht ihr Vater war, nur ein guter Freund, und das schloss sicher das eine, aber nicht das andere aus. George Amussen gegenüber sprach der Richter immer von ›Ihrer schönen Tochter‹, zugeneigt und respektvoll, wie er fand, fast, als wäre es ein Titel. Und seine Phantasien von sich und Vivian waren schließlich nicht so weit hergeholt. Seine Erfahrung und ihre Frische, unerwartet und doch zuträglich vereint. Diese Vorstellung – es wäre falsch, es einen Plan zu nennen – machte ihn ihr gegenüber steifer als sonst, er schien älter, hölzerner, als er war. Er konnte es spüren, aber je mehr er sich bemühte, desto weniger konnte er etwas dagegen tun.
    In jenem ersten Herbst in Virginia war es bei den Rennen regnerisch und kalt. Die Felder waren matschig, das Gras von Autos und Fußgängern platt getreten. Zuschauer in unförmigen, klobigen Kleidern standen an den Zäunen, Kinder und Hunde rannten herum. Ein stämmiger Mann näherte sich den Reihen geparkter Autos, bei

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