Alles, was ist: Roman (German Edition)
sogar ein wenig heruntergekommen, ungefähr dreißig Minuten vor der Stadt. Der Verkehr am Morgen war nie sehr dicht. Laster waren auf den Straßen nicht erlaubt, und in den Autos saß meist nur eine Person. Es war ein einfaches weißes Haus mit schmutzigen Asbestschindeln, an einer abschüssigen Straße, die sich bis zum Fluss und einer Papierfabrik den Hang hinunterwand. Im Erdgeschoss waren ein Zimmer und die Küche und oben zwei Schlafzimmer und ein Bad mit alten Armaturen. Vorne gab es einen schmalen Streifen stumpfen Rasens, nach hinten hinaus einen Garten. Zwei große unregelmäßige Steine bildeten die Stufen zur Haustür. Die Straße führte steil bergab fast direkt in den Schnapsladen, Besitzer war der ehemalige Bürgermeister, der immer noch genau wusste, was in seiner Stadt vor sich ging.
Er hatte das Haus sofort als seins erkannt, es war wie die Häuser, zwischen denen er aufgewachsen war, die kleinen Häuser im Süden, nicht wie die der Ärzte oder Rechtsanwälte oder auch das seines Vaters, der eine Sämerei besaß. Eddins hatte seinen Vater geliebt, der sich, zu alt für den Krieg, dennoch gemeldet hatte und 1943 auf Urlaub nach Hause kam, in seiner Khakiuniform mit den zwei gekreuzten Gewehren auf dem Kragen, ein unauslöschliches Bild. Im Süden kamen die Männer so nach Hause, in Uniform, so war es Tradition. Das war damals in Ovid, in South Carolina – Oh-vid, wie man es aussprach. Mit Austernschalen bestreute Auffahrten, Reklameschilder aus Blech, Kirchen, Whiskyflaschen in braunen Papiertüten und blasse Mädchen mit welligem Haar, die in Kaufhäusern und Büros arbeiteten, von denen man irgendwann eine heiratete. Es war in seinem Blut, in ihn eingestanzt wie die Flaschendeckel und das Stanniolpapier in der festgetretenen Jahrmarkterde. Und dann die ganzen Geschichten, die wieder und wieder erzählt wurden, bis man sie alle kannte, jede Familie, jeden Namen. Man saß am Nachmittag oder am Abend auf schattigen Veranden beisammen und sprach mit gemächlichen, verführerischen Stimmen von Dingen und wem sie zugestoßen waren. Die Zeit hatte in seiner Erinnerung in jenen Jahren eine andere Geschwindigkeit, bewegte sich nicht, man ging zu Fuß, außer wenn die Straße gut war, dann fuhr man auch mit dem Auto. Am Stadtrand war der Fluss, er war nicht sehr breit und floss sehr träge, leichte Schaumschlieren darauf, fast unbewegt, das Wasser rostig und kalt. An beiden Ufern, so weit das Auge reichte, nichts: Bäume, Flussufer, ein streunender Hund, der den Weg entlangtrottete. Auf dem halb umzäunten Schrottplatz dann die Karosserien abgewrackter Autos und ein Stück weiter die Straße hoch eines, das in einer Nacht direkt vor einen Baum gefahren war, die eingedellten Türen standen offen, der Motor war herausgenommen worden.
Dort kam er her, und jetzt lag es hinter ihm, aber es war noch da, wie der Abdruck auf der Seite unter dem Papier, auf dem man schrieb. Er bewahrte die tiefen Dinge, einen Familiensinn, Respekt und letztlich eine Art von Würde. Das kostbarste Eigentum seiner Mutter war ein alter Esstisch aus geschnitztem Riegelwuchsmahagoni, der seit dem achtzehnten Jahrhundert im Besitz ihrer Familie war. Er erinnerte sich an das Meer, an die Aufregung auf der Fahrt dorthin, die ziemlich lang war. Sie waren im Sommer hingefahren, als er noch ein Junge war. Die Flachseeinseln, das weite Schlickgras, die Strände und die Boote, die wie zum Trocknen aufgebockt waren. Das, was er an dem Haus in Piermont am meisten mochte, war, dass es wie ein Haus am Meer war. Er sah über den weiten Fluss, breit und reglos wie Schiefer und dann wieder lebendig und voller Licht.
Eines Abends auf einer Party lernte er ein Mädchen namens Dena kennen, groß und schlaksig mit dunklen Augen und einer Lücke zwischen den Zähnen. Sie kam aus Texas und war geschieden – wie sie sagte, auch wenn das genau genommen nicht stimmte – von einem Mann, den sie als bekannten Dichter beschrieb, Vernon Beseler, ebenfalls aus Texas, der wirklich Gedichte veröffentlicht habe und mit anderen Dichtern befreundet sei. Eddins hatte noch nie von ihm gehört. Sie hatte ein Kind, einen kleinen Jungen, der zurzeit bei ihren Eltern war. Er heiße Leon, sagte sie und zuckte mit den Achseln, als wollte sie sagen, sie hätte den Namen nicht ausgesucht. Was war so besonders an einer Frau, die sich verliebt und geheiratet hatte und jetzt mit einer fast narrengleichen Freundlichkeit vor ihm stand, wie eine Bittstellerin eigentlich, in hohen
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