Alles, was ist: Roman (German Edition)
Ruhe die Zeitung, während das Motorengeräusch anhob und das Flugzeug sich langsam in Bewegung setzte, dann der Take-off, das Flugzeug zitterte unter dem Dröhnen, Wasserschlieren liefen über die Kabinenfenster. London, dachte Bowman. Es war Anfang Mai.
Am Morgen lag England grün und unbekannt unter den aufgebrochenen Wolken. Sie nahmen von Heathrow ein Taxi, das ein Geräusch machte wie eine Nähmaschine, während der Fahrer in einer Sprache, die nur schwer verständlich war, hin und wieder eine Bemerkung fallen ließ. Sie fuhren durch endlose triste Vororte, die schließlich in Straßen übergingen, schräge Winkel, viktorianische Backsteinbauten. Sie bogen auf eine breite Allee, The Mall, daneben das dichte Grün des Parks, die schwarz lackierten Eisenstäbe des Zauns glitten vorüber. Am Ende, weit entfernt, ein heller, vornehmer Palast. Sie fuhren schnell und auf der falschen Seite. Bowman war von dem stolzen und antiquierten Charakter der Stadt beeindruckt, dem unregelmäßigen Gefüge der Straßen und den eigentümlichen Namen. Das Wichtigste aber, die Trennung vom Kontinent, war ihm noch nicht bekannt.
Obwohl der Krieg mittlerweile mehr als fünfzehn Jahre zurücklag, war sein Geist noch immer gegenwärtig. England hatte den Krieg gewonnen – und es gab kaum eine Familie, ob reich oder arm, die nicht daran beteiligt gewesen war. Von den ersten Rückschlägen an, als das Land noch unvorbereitet war, der Zerstörung ferner Kriegsschiffe, die als unsinkbar galten, Symbol und Stolz der Nation, und dann die absolute Katastrophe, als die Armee 1940 nach Frankreich zog, um an der Seite der Franzosen zu kämpfen und sich an den Stränden von Dünkirchen eingekesselt sah; das hoffnungslose Durcheinander von Männern ohne Ausrüstung und Proviant, die im Rückzug alles zurückließen und erst in letzter Sekunde, unter Aufbringung aller Kräfte und durch die Gnade deutscher Nachlässigkeit, in jedem nur zur Verfügung stehenden Boot, ob klein oder groß, erschöpft und geschlagen, nach Hause gebracht werden konnten. Und immer noch blieb die Aufgabe bestehen, schien der Kampf nicht enden zu wollen, seine unvorstellbaren Ausmaße, der Wüstenkrieg, die Entschlossenheit, Sues zu retten, der zermürbende Luftkrieg, und dann im Dunkeln einstürzende Mauern, ganze Städte in Brand, unheilvolle Nachrichten aus dem Fernen Osten, Verlustlisten, die Vorbereitung auf die Invasion, die Kämpfe ohne Ende …
Und England hatte gewonnen. Der Feind strauchelte in Ruinen, hungerte. Was von den englischen Städten übrig blieb, roch nach Tod und Abwassern, Frauen verkauften sich für Zigaretten, aber es war England, wie ein zerschlagener Boxer, der sich gerade noch auf den Beinen hielt und doch zu viel eingesteckt hatte. Zehn Jahre danach wurde das Essen noch immer rationiert, es war schwer zu reisen, es durfte kein Geld außer Landes gebracht werden. Die Glocken, die zur Siegesstunde geläutet hatten, waren längst verklungen. Ein Leben wie vor dem Krieg war unwiederbringlich verloren. Ein Verleger, der nach dem Essen eine Zigarette ausdrückte, hatte ruhig gesagt: »Mit England ist es aus.«
Als Erstes wohnten sie im Haus einer befreundeten Lektorin, Edina Dell, in einer der kleinen Enklaven, Terraces genannt, mit einem ummauerten Garten und ein paar Bäumen vor dem Esszimmer, dem untersten Zimmer im Haus. Sie war die Tochter eines Altphilologieprofessors, schien mit den unregelmäßigen Zähnen und ihrer Nonchalance aber einem größeren Leben zu entspringen, einem alten Landhaus mit Gemälden, abgenutzten Möbeln und bekannten Indiskretionen. Sie hatte eine Tochter, Siri, das Ergebnis einer zehnjährigen Ehe mit einem Sudanesen. Die Tochter hatte diesen weichen verführerischen Hautton, war sechs oder sieben Jahre alt und liebte ihre Mutter sehr. Sie stand oft neben ihr, den Arm um ihre Beine gelegt. Sie war eine Gazelle, ihre Augen waren dunkelbraun mit dem allerhellsten Weiß.
Edina war mit einem großen, eleganten Mann namens Aleksei Paros liiert, der aus einer vornehmen griechischen Familie stammte und vielleicht verheiratet war – er blieb vage bei dem Thema, es sei komplizierter, als man denkt. Er handelte derzeit mit Enzyklopädien, aber sogar mit losen Hemdsärmeln, während er im Haus nach Zigaretten suchte, hatte man den Eindruck, er würde seinen Weg schon gehen. Er war groß und übergewichtig und konnte ohne viel Mühe Männer wie Frauen umgarnen. Edina fühlte sich von Männern wie ihm angezogen. Ihr Vater war
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