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Alles, was ist: Roman (German Edition)

Alles, was ist: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was ist: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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derselbe und immer noch derselbe, und plötzlich, eines Morgens, haben sich zwei unauslöschliche Falten in den Mundwinkeln eingegraben.
    Letztlich war es doch nicht Parkinson, auch wenn der Arzt lange Zeit davon ausging. Beatrice war zwei weitere Male gestürzt und kämpfte mit den Dingen des täglichen Lebens. Schließlich zog Dorothy bei ihr ein. Das Fiori hatten sie verkauft, als man bei Frank einen Gehirntumor festgestellt hatte und er wahnsinnig geworden war. Er war auch mit einer der Kellnerinnen abgehauen. Dorothy nannte es Wahnsinn.
    »Aber er hatte auch einen Tumor?«
    »Oh, ja.«
    Bowman glaubte, sein Onkel hätte eine Vorahnung gehabt und wollte seine lange geschlossenen Flügel ein letztes Mal ausbreiten – er war in ein Krankenhaus in Atlantic City eingeliefert worden und hatte es mit einer Frau namens Francile verlassen.
    »Hast du etwas von ihm gehört?«, fragte Bowman.
    »Nein«, sagte Dorothy. »Aber du weißt, dass er verrückt ist.«
    Tatsächlich hörten sie nie wieder von ihm.
    Nach und nach begann Beatrice fast beiläufig Halluzinationen zu bekommen oder es vorzugeben. Vor allem am Abend sah sie Menschen, die nicht da waren, und redete mit ihnen.
    »Mit wem sprichst du?«, fragte Dorothy.
    »Mr Caruso«, sagte Beatrice.
    »Und wo ist er?«
    »Da. Ist das nicht Mr Caruso?«
    »Ich sehe niemanden. Da ist niemand, Beatrice.«
    »Eben war er noch da. Er wollte nicht mit mir sprechen«, erklärte sie.
    Caruso war der Eigentümer des Wein- und Schnapsladens, zumindest früher einmal. Dorothy war sicher, dass er nicht mehr arbeitete.
    Auch meinte Beatrice, obwohl sie es zuerst nicht sagte, dass sie nicht mehr in ihrem eigenen Haus wäre. Obwohl sie fast fünfzig Jahre dort gelebt hatte, war sie sicher, man hätte sie woanders hingebracht. Es gab Momente, in denen sie Dorothy nicht erkannte, nicht einmal ihren Sohn. Am Ende stellte sich heraus, dass sie an einer Krankheit litt, die Parkinson sehr ähnlich war und oft dafür gehalten wurde, eine weniger bekannte Krankheit namens Lewy-Körperchen-Demenz. Die Körperchen waren in diesem Fall mikroskopisch kleine Proteine, die die Nervenzellen im Gehirn angriffen, und neben anderen eben auch die Zellen, die bei Parkinson betroffen waren. Die Diagnose hatte lange gedauert, da die Symptomatik beider Krankheiten so ähnlich war. Halluzinationen allerdings waren ein Unterschied.
    Die genaue Ursache der Lewy-Körperchen-Demenz war nicht bekannt. Die Symptome verschlimmerten sich zunehmend. Das Ende war unvermeidlich.
    Beatrice war so oft sie selbst, dass die Schübe im Grunde wie kleine Aussetzer wirkten, die auch wieder verschwinden würden, aber das Gegenteil war der Fall. Ihr eigentliches Wesen blieb intakt.
    »Dorothy«, sagte sie eines Tages. »Weißt du noch, als wir in Irondaquoit Bay lebten? Die alten Reisetruhen auf dem Dachboden, was war eigentlich da drin? Ich hab es vergessen.«
    »Mein Gott, Beatrice, ich weiß nicht. Vieles. Kleider, Fotos.«
    »Was ist damit passiert?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ich frag mich das gerade. Ich hab noch ein paar Kofferschlüssel, ich weiß nur nicht für welche.«
    »Da sind keine mehr.«
    »Wo sind sie?«, fragte Beatrice.
    Sie hatte einen wiederkehrenden Traum, oder vielleicht dachte sie auch nur an die Koffer. Sie war sicher, dass da welche gewesen waren. Sie konnte sie sehen. Dann war sie sich nicht mehr sicher. Vielleicht hatte sie es sich nur eingebildet. Es waren ihre Erinnerungen, für die sie die Schlüssel hatte, nur passten sie nicht mehr. Und dann konnte Dorothy die Menschen nicht sehen, die irgendwie ins Haus gelangt waren. Und dann waren da die täglichen Sorgen. Wo war die Medizin, die sie nehmen sollte?
    »Zweimal am Tag?«, fragte sie wieder.
    »Ja. Zweimal.«
    »Es ist aber auch schwer, sich das zu merken«, klagte Beatrice.
    Bowman kam mit dem Zug, er blickte hinaus über den Nebel der Jersey Meadows, Marschland im Grunde. Er hatte eine tiefliegende Erinnerung an die Meadows, sie waren in seinem Blut wie die einsame graue Silhouette des Empire State Building, die am Horizont schwebte wie in einem Traum. Er kannte die Strecke, zuerst die verlassenen Flüsse mit ihren einsamen, dunklen Buchten. Wie ein Industrieskelett aus der Urzeit erhob sich in der Ferne der Pulaski Skyway und spannte sich über den Fluss. Etwas dichter ratterten karge Backsteinfabriken mit zerbrochenen Fenstern vorbei. Dann kam Newark, die düstere, verlorene Stadt von Philip Roth, Kirchen mit Bäumen am Fuß maroder Türme.

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