Alles Zirkus
Trixi fragen hören, wo er seine Gedanken hat und was mit ihm überhaupt los ist.
Clown? Nicht sehr witzig. Müde und zerschlagen fühlt er sich, das ist alles. Aus diesem Grund hat er sich gerade entschlossen, heute vor der Arbeit in den Stadtwald zu fahren und dort einmal tief durchzuatmen. Wieso fällt es ihm so schwer zuzugeben, dass auch seine Kräfte begrenzt sind? Mirko und er haben inzwischen ganz verschiedene Vorstellungen davon, wie es weitergehen soll. Und Trixi zieht sich in das fragwürdige Panoptikum auf den bunten Bildern eines toten Malers aus New York zurück. Ein Waldspaziergang am Morgen? Er kommt sich albern vor. Er ist kein Schauspieler, nicht der Darsteller wechselnder Charaktere, und er kann deshalb auch nicht plötzlich den Frühsportler geben. Die Dinge sind, wie sie sind, das obliegt nicht unserem Belieben. Daran ändert sich auch nichts, wenn Trixi zum Frühstück ihre Geistesabwesenheit auftischt. Betrüblicherweise ist seiner Frau nicht begreiflich zu machen, dass sie beide aufmerksam sein müssen füreinander – besonders am Morgen. Die Einsicht, dass es auch den anderen gibt und Zurücknahme der eigenen Belange und Stimmungen ein wesentlicher Ausdruck der Liebe sein kann, bleibt Trixi verschlossen.
Neuerdings scheint sein Magen weniger robust zu sein als früher. Er reagiert empfindlich. Kaffee und Toast machen sich im Nachhinein bemerkbar. Walter nimmt eine Tablette aus dem Handschuhfach und zerkaut sie. Von den Polstern des schweren Wagens steigt ihm aufbauend der Duft des Leders entgegen und verschmilzt mit dem Pfefferminzaroma, das sich in seinem Mund ausbreitet. Vor Müdigkeit hat er sich bei der Rasur geschnitten, das schwärzlich getränkte Papier hängt noch auf seiner Oberlippe. Er fährt an den Rand eines Wirtschaftswegs und sieht sich um, ob jemand in der Nähe ist, der sich für sein schönes, nagelneues Luxusauto interessieren könnte. Aber da ist weit und breit keiner außer ihm. Vom Waldboden mit seinem bunten Laub steigt tabakartiger Geruch auf und erinnert an Trixis osteuropäische Zigaretten. Er bedauert jetzt, dass er beim Frühstück nicht besser mit Trixis Gereiztheit umzugehen gewusst hat. Es ist ihre Art, Kontakt zu ihm zu suchen, wenn sie anders nicht zu ihm durchdringt. Warum wischen sie diese Irritationen nicht einfach fort? Nun wünschte er sich, sie wäre bei ihm hier im Wald, er könnte den Arm um sie legen. Walter sieht beim Gehen, wie abwechselnd sein schnaufender Schuh voranschreitet und dann der andere, das Zischen unter der Sohle ändert daran gar nichts. Eine mechanische Jagd, die man normalerweise gar nicht mehr mitbekommt. Allerdings, wenn man erledigt ist und trotzdem weitermachen muss, ist jeder einzelne Schritt ein Unterfangen, und dann heißt es: Zunächst der eine, und jetzt noch einer, und beim dritten ist erst einmal wieder Schluss. Was findet Trixi überhaupt an diesem übersexualisierten Zwerg? Da kann sie ahnen – von dem, was ihren Mann fertigmacht, will sie noch nicht einmal etwas wissen. Die Probleme in seiner Existenz lassen sich Trixis Auffassung nach allesamt durch einen Willensakt und etwas mehr Humor von ihm selber lösen. Und damit das auch so gelingt, sieht er sich Nacht für Nacht zum Clown verwandelt. Neuerdings.
Der Brief in seiner Tasche fällt ihm wieder ein. Tomm zieht ihn hervor. Institut für Diskrete Mathematik . Sicher, da sind Einfaltspinsel am Werk, die ihn mit einer absurden Absenderangabe übertölpeln wollen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass man nicht nur Institut, sondern auch Diskrete Mathematik schon einmal gehört hat. Was kann nun unversehens ein Fähnlein Rechenkünstler von ihm begehren? Der kurze Brief lässt das auch bei wiederholtem Lesen vollständig offen, selbst wenn Walter ihn zwischendurch wie ein Blinder mit den Fingerkuppen befühlt. Eine Art professionelles Interesse treibt ihn an. Der Verfasser, Direktor dieser Forschungseinrichtung, wie dem Briefkopf zu entnehmen ist, ergeht sich in lauter pompösen Floskeln, die sich ausnahmslos auf Gegenstände beziehen, mit denen Walter Tomm sich nie befasst hat. »Die Welt ist in rasantem Wandel begriffen«, liest er. »Der wissenschaftlichtechnische Fortschritt wird meist aber erst wahrgenommen, wenn er unser Leben schon lange prägt. Befreien wir die Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm. Helfen Sie uns dabei.«
Dieses Geschwätz gilt offenkundig nicht ihm. Eine Verwechslung. Er studiert das Schreiben trotzdem noch einmal, fragt sich dann
Weitere Kostenlose Bücher