Alles Zirkus
aber, was das soll. Er zupft den kleinen Papierfetzen von der Lippe. Sich vorzusehen nützt nichts, es ist nicht zu verhindern, dass die Klinge des Rasiermessers ab und zu auf einen winzigen Widerstand stößt und ihn mitnimmt, dann gibt es halt ein paar Blutstropfen. »Look in thy glass and tell the face thou viewest/Now is the time that face should form another …« Stimmt etwas nicht mit seinem Gesicht? Trixi hat ihn jedenfalls, auch wenn es einige Zeit her ist, mit diesen Zügen ausgesucht. Aber er hat auch nichts gegen sie einzuwenden. Außerdem, sobald er das Badezimmer hinter sich lässt, tritt an die Stelle des Spiegelbilds ein zwar vages, aber dafür auch flexibles Gefühl davon oder dafür, wer er ist und in welcher äußeren Gestalt sein Inneres sich zeigen mag – wahrscheinlich. Wahrscheinlich ist genug. Besser jedenfalls als die seitenverkehrte Simplifikation im Spiegel.
Plötzlich steigt widerlicher Verwesungsgestank aus dem Unterholz auf, irgendwo in der Nähe verrottet ein Kadaver, und das finden die Leute so attraktiv, dass sie dort mit Begeisterung ihre Dauerläufe absolvieren. Jetzt sieht er, was es ist: eine Stinkmorchel. Ekelhafte Maskerade. Also der Brief. Man hält ihn für einen anderen. Offenkundig existiert ein weiterer Walter Tomm, der sich nicht mit dem Abfassen zündender Werbebotschaften herumschlägt. Sondern womit? Das geht nicht hervor aus dem Schreiben, in dem Direktor Pipapo lediglich mitteilt, es gehe um die Lösung des berühmten Landkartenproblems. Das einzige Landkartenproblem, das Walter bekannt ist, ergibt sich im Auto, wenn die Patentfaltung einem verheimlichen will, wie es hinter dem Knick weitergeht. Ein Navigator gehört zur Grundausstattung des neuen Wagens, und er hat sich sogar ein besonderes Luxusgerät geleistet.
Wald ist wirklich nicht seine Sache. Angenehmerweise rücken jetzt die Verkehrsgeräusche unverkennbar näher. Diskrete Mathematik – gut, das ist das eine. Die Sache ist ihm grundsätzlich bekannt, auch wenn er sich schwertun würde, Trixi (ein allerdings schlecht gewähltes Beispiel, da er ihr mit staubtrockenem Zeug solcher Sorte gar nicht erst zu kommen braucht) – also dann eben seiner Sekretärin Sandra oder sonst irgendjemandem detailliert zu erklären, was genau darunter zu verstehen ist. Er kann damit leben, nicht alles zu wissen. Wie kommt man jetzt gerade auf ihn? Die Adresse stimmt, der Brief ist in seinem Briefkasten gelandet. Er ist an ihn gerichtet und an keinen sonstigen Walter Tomm. Und nun tut er etwas, was er später selbst nicht mehr versteht: Unerklärlicherweise zieht er kurzerhand das Telefon aus der Tasche und tippt die Nummer in die Tastatur, die er auf dem Briefkopf liest.
Mit wütender Promptheit meldet sich eine weibliche Stimme. Ihr Bellen bewacht offenbar das Vorzimmer dieses Herrn Maier, der irgendein Anliegen hat.
Ihr Chef, sagt Walter, suche den Kontakt zu ihm. Also, da rufe er an.
»Was wollen Sie denn überhaupt?«, fährt ihn die Stimme an.
Jetzt auch noch Unhöflichkeiten? Schlagartig wird ihm bewusst, wie idiotisch er sich benimmt, drückt den roten Knopf und kappt die Verbindung ohne weiteres Wort.
Wenig später trillert sein Telefon durch die Waldluft. Herr Maier ruft zurück.
»Herr Tomm? Fabelhaft, dass Sie so schnell anrufen.« Und statt damit herauszurücken, worum es eigentlich geht, fragt er, wann sie sich denn einmal zusammensetzen könnten, um sich in Ruhe zu unterhalten, die Sache werde ihm dann genau erklärt.
Walter ist das alles ziemlich gleichgültig, der Brief kann nur irrtümlich an ihn geschickt worden sein.
Durchaus nicht, widerspricht Maier bestimmt, das Schreiben gilt genau ihm und wurde wahrscheinlich etwas ungeschickt abgefasst – aber das ist eben Teil des Problems: Scheuklappen und mangelnder Sinn dafür, wie Kontakte aus der Wissenschaft heraus funktionieren können. Doch nun sei man ja glücklicherweise im Gespräch.
Er sagt das bei aller Verschwommenheit so freundlich, dass Walter sich nicht anders zu helfen weiß, als einzuwilligen, in diesem Institut vorbeizusehen; wo es sich befindet, samt Parkplatz im Hof, wird ihm dargelegt. Und zwar gleich am Nachmittag. Er ist über sich selbst verwundert. Der Heimweg vom Büro führt ohnehin vorbei. Den zusammengeknüllten Brief wirft Walter ins Gebüsch.
Joker
Bei der Lagebesprechung zeigt Sandra die Rechnung für die missratenen Bilder aus Mauretanien vor. Zusätzlich zum vereinbarten Honorar verlangt der Fotograf nun wegen
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