Alles Zirkus
Samstagvormittag zu fahren.
Colmar liegt wie im Werbeprospekt unter der Mittagssonne, die am makellosen Himmel steht. Nachdem sie sich ein Hotel gesucht haben, vor dem Walter mit etwas komplizierten Manövern auch seinen dicken Wagen geparkt bekommt, spazieren sie eine gute Stunde durch die Stadt. Er umfasst Trixis Schulter. Sie kaufen sich unterwegs einen Flammkuchen, essen ihn zusammen und trinken aufgespritzten Weißwein aus großen Plastikbechern, und später gehen sie ins Hotel. Mitten am Tag zeigt der Alkohol Wirkung und schürt ihre Leidenschaft zusätzlich. Sie befreien sich gegenseitig von den Kleidern. Im Spiegel am Schrank verfolgt Trixi das Schauspiel.
Als sie am Nachmittag das Hotelzimmer wieder verlassen, wimmeln die Straßen vor sommerlich gekleideten Touristen. Durch die warme Luft schwingt das wirre Gedudel eines Akkordeonspielers, der sich auf einer Brücke über der Lauch postiert hat und darauf hofft, niemand werde sich daran stören, dass er sein Instrument überhaupt nicht beherrscht und mit sinnlosem Tastengewackel den Anschein zu wecken sucht, es handele sich um fremdländische Folklore. Trixis Geschmack liegt noch auf Walters Lippen. Er fühlt sich frei wie lange nicht mehr, seine Beine berühren den Boden mit betörender Selbstverständlichkeit. Der Rummel stört ihn nicht. Trixi lehnt am Brückengeländer, ihre braunen Augen sehen ins Wasser. Die Sonnenbrille steckt in ihrem Haar. Sie zieht sie auf die Nase und geht weiter. Auf der Schwelle eines krummen Hauses streckt sich eine buntgescheckte Katze aus und lässt ihren Bauch von der tiefstehenden Sonne bestrahlen. Unten am Ufer kleben Restaurants. Eines sieht einladend aus, und Walter reserviert für den Abend einen Tisch direkt am Wasser.
Zu ihrer Überraschung wartet keine Besucherschlange vor dem Unterlinden-Museum. Zurückversetzt in eine andere Zeit fühlen sie sich, sie lösen nur Karten und spazieren hinein. Nachdem sie dem Schatten des Kreuzgangs um den sonnenüberstrahlten Innenhof gefolgt sind, öffnen sie eine Tür. Der Isenheimer Altar, Grünewalds Paukenschlag am Morgen der Malereigeschichte, steht dort so einfach erreichbar und ungeschützt (vielleicht gerade darum auch noch so unangetastet) wie eh und je. Sie trinken draußen auf der Straße Tee. Immer mehr Menschen ziehen herum, die Weinstuben füllen sich. Auf Gummirädern kommt eine kleine Bahn um die Ecke und schaukelt Besucher über das Kopfsteinpflaster, die dabei nicht alle fröhlich aussehen. Wieso – überlegt Walter – hat er eigentlich vorhin wieder Trixis Geschenk für Mirko kritisiert? Und müssen sie sich das da etwa den ganzen Abend lang gefallen lassen? Der Stümper mit der Ziehharmonika ist schon von weitem unüberhörbar. Bis zu dem Restaurant, wo sie essen wollen, gehen sie nur wenige Minuten. Plötzlich bleibt Walter zurück. Sie sieht sich um, gerade wischt er seinen Schuh an einem Laternenpfahl ab, dann auf einem Stück Rasen.
»Hast du die Scheiße nicht gesehen?«, fragt sie ihn, und er antwortet nicht.
Jetzt fällt ihm wieder auf, wo die Differenz zwischen ihnen liegt, über die sie im Auto gesprochen haben. Es ist Trixi nicht nur egal, ob sie andere verlegen macht – sie freut sich sogar, wenn es ihr gelingt. Handelt es sich um ihn, jedenfalls. Bei anderen ist sie bemüht, demonstrativ geradezu, Unsicherheiten aufzufangen. Aber wenn es nicht um Fremde geht, sondern um Menschen, die ihr nahestehen – vor allem um ihn, ihren Mann –, kann sie sich am kleinsten Missgeschick ergötzen. Ihre weibliche Teilnahme, der Schirm, den sie über ihm (zum Schutz vor seiner männlichen Selbstvernichtungsbereitschaft) mit ein, zwei Worten leicht aufspannen könnte, fehlt da gänzlich. Er hat den Schuh soweit sauber bekommen, dass kein besonderer Geruch mehr zu bemerken ist. Nachher geht es aber trotzdem noch einmal los, Trixi wird nämlich die Fortsetzung seiner Blamage auskosten und von ihm – als käme er darauf nicht selbst – wie von einem Kind verlangen, dass er die Sohle penibel mit Seifenwasser reinigt. Wenn das erfolgt ist, wird sie den Vorgang eigenhändig wiederholen.
Dieser Tisch, an den sie gesetzt werden sollen, ist nicht der, den er am Nachmittag ausgesucht hat. An allen anderen, die vielleicht in Frage kommen, weil auch sie direkt neben dem Wasser stehen, sitzen bereits Gäste. Trixi und Walter lassen sich von der betriebsamen Wirtin nicht als Rangiermasse behandeln. Besucher mit großem Hunger und reichlich Durst sind in die
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