Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
1981
Irina und Anatolij hatten, wie bereits erwähnt, das Medizinische Institut abgeschlossen. Anatolij wurde nach dem Examen in eine chirurgische Klinik unter der Leitung des Akademiemitglieds Saweljew geschickt. Die Anfangsperiode war sehr schwer für ihn, aber mit der Zeit arbeitete er sich ein und betätigte sich im Rahmen der Forschungen des Lehrstuhls auch wissenschaftlich. Während er weiter in der Klinik arbeitete, verteidigte er seine Dissertation.
Mit einem Wort: Unsere Familie ging allmählich im Leben der Hauptstadt auf. Der Kreis unserer Bekannten erweiterte sich, und wir fühlten uns immer mehr als Moskauer.
Andropows Ende
Im Sommer 1983 wurde klar, dass die Hoffnungen auf eine bessere Zeit gefährdet waren: Der Gesundheitszustand Andropows verschlechterte sich plötzlich stark. Seine Nieren funktionierten nicht richtig. Eine Zeitlang wussten das nur wenige. Aber die Krankheit verschlimmerte sich, und das wirkte sich auf seinen Allgemeinzustand und sein Aussehen aus: Sein Gesicht wurde unnatürlich blass, die Stimme heiser. Wenn Andropow früher jemanden in seinem Büro empfing, ging er ihm entgegen und begrüßte ihn. Jetzt stand er nicht mehr vom Tisch auf, sondern streckte nur die Hand aus. Es fiel ihm zusehends schwerer, sich zu bewegen.
Zuerst musste er ein-, dann zweimal pro Woche zur Dialyse, und dann noch häufiger. Es war nicht mehr zu verbergen. Zwischen den Dialysen musste eine arteriovenöse Fistel an seinen Armen bleiben, sodass alle sahen, dass seine Arme über dem Handgelenk verbunden waren. Das Gerücht, er werde nicht mehr lange leben, kam auf. Wieder wurden alle aktiv, für die Andropows Krankheit ein Geschenk des Himmels war. Erst flüsterten sie in den Ecken, dann verbargen sie ihre Freude nicht einmal mehr. Sie warteten auf ihren Augenblick. Das machte sich besonders stark bei der Vorbereitung der Juni-Plenartagung des ZK 1983 bemerkbar.
Die Idee, eine Plenartagung zu ideologischen Fragen zu veranstalten, stammte von Andropow. Er war besorgt über den politischen, ideellen und sittlichen Zustand der Gesellschaft, und er hoffte, das Plenum des ZK werde die Methoden der ideologischen Arbeit verändern und effektiver machen. Offiziell war Tschernenko für die Ideologie verantwortlich. Er sollte ein Referat halten. Da die Meldungen über den Gesundheitszustand des Generalsekretärs nun nicht mehr geheim waren, fasste die »ideologische Brüderschaft« Simjanins, die zu Tschernenko hielt, Mut, war geschlossener und selbstsicherer und betrachtete das Referat als so etwas wie eine offizielle Wiederbelebung der Breschnew-Ära.
Das Politbüro mischte sich in die Vorbereitung des Referats praktisch nicht ein. Als es verschickt wurde, las ich es durch, ging zu Andropow und sagte: »Das kann man nicht zulassen! Ein Vierteljahrhundert haben wir keine Plenartagung zur Ideologie durchgeführt, und nun dieses Referat!«
Das Absurdeste war, dass der ganze Text an den passendsten und unpassendsten Stellen demonstrativ von Andropow-Zitaten und Anspielungen auf ihn strotzte. Auf diese Weise wurden sein Name und sein Kurs mit diesem Kodex von Regeln und Verboten der Stagnationszeit in Verbindung gebracht, der von Simjanins Brigade zusammengestellt worden war. Dieses Referat war meiner Meinung nach eine offene Provokation. Ich sagte, wenn er nicht dagegen sei, würde ich versuchen, noch einmal mit Tschernenko zu sprechen, aber, was immer dabei herauskomme, Andropow müsse bei der Plenartagung auftreten.
Bei dem Treffen mit Tschernenko trug ich ihm so taktvoll wie möglich meine Überlegungen zu dem Referat vor: »Zweifellos ist in dem Referat reiches Material zusammengetragen, aber man bekommt beim Lesen das Gefühl, dass es keine Verbindung zu dem hat, was wir in den letzten Monaten gemacht haben. Es fehlt eine solide und pointierte Fragestellung. Wenn man um ein Drittel kürzt und die Gedanken auf das Wesentliche konzentriert, kann das Referat nur gewinnen.«
Uff! Sich taktvoller auszudrücken, war einfach unmöglich, und ich hoffte, Tschernenko werde mir mindestens anbieten, ich solle mich an der Endfassung beteiligen. Aber weit gefehlt!
»Danke, dass du es gelesen hast«, antwortete er und sah mich absolut gleichgültig an. »Es hat viele Fassungen dieses Referats gegeben, und ich bin bei dieser geblieben. Ich werde über deine Anmerkungen nachdenken.«
Das war’s. Er änderte nichts – meine Ratschläge blieben unberücksichtigt, und mir wurde hinterbracht, er habe meinen Besuch als
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