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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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wissen, was ich von den Reformen und der Situation im Land halte.
    Jelzins Anhang hatte einfach Angst vor diesen Treffen. Das belegen die wiederholten hartnäckigen Aufforderungen offizieller und inoffizieller Präsidentenstäbe, ich solle zusammen mit ihm auftreten oder zu seinen Gunsten auf die Wahl verzichten. Als das nicht fruchtete, versuchten sie unter Verletzung der normalen Regeln des Anstands, meine Treffen platzen zu lassen, und schreckten weder vor gröbsten Verstößen gegen das Wahlrecht noch vor direkter Kriminalität zurück.
    Der Gouverneur Poleschajew von Omsk, ein Jelzin-Treuer, war selbst gerade verreist. Sein Stellvertreter, den er angeblich beauftragt hatte, sich um mich zu kümmern, war auch nicht da. Die Menschen versammelten sich in einem Saal, ich ging zu ihnen. Unterwegs stürzte sich auf einmal ein zwei Meter großer Mann auf mich und schlug mir auf den Kopf. Später stellte sich heraus, dass er früher bei den Landetruppen gewesen war und als »nicht ganz normal« galt. Mich rettete ein Leibwächter, der den Schlag mit seiner Hand abfing, sodass dieser nur Hals und Schulter traf und ich nicht das Bewusstsein verlor.
    Trotzdem führte ich das Treffen durch. Ich erzählte, was mir im Flur passiert war. Der Chef der Miliz hatte übrigens brav zu Hause gehockt und auf diesen Anschlag gewartet. Dann erschien er. Mit einem Wort: ein abgekartetes Spiel. Alle blieben denn auch weiterhin im Amt – wie es für Feiglinge und Gewissenlose nicht weiter verwunderlich ist. Später erfuhr ich, dass diese Aktion von der Partei Schirinowskijs angezettelt worden war. An dessen fünfzigstem Geburtstag erzählte der Vorsitzende der Omsker Organisation der Liberaldemokratischen Partei auf einmal im Rausch: »Was für einen ›Empfang‹ wir Gorbatschow in Omsk bereitet haben!«
    Schirinowskij reagierte nicht darauf, er saß da und ließ sich nichts anmerken, aber fünf Minuten später wurde dieser Mann entfernt.
    Als ich diese Information erhielt, beantragte ich bei der Generalstaatsanwaltschaft eine Untersuchung der Angelegenheit. Leider erhielt ich nur eine ganz »formale« Antwort. Auch die Staatsanwaltschaft gehörte zu den treuen Dienern der Macht und nicht des Gesetzes.
    Ich wollte unbedingt nach Wolgograd. Der Schriftsteller Andrej Sinjawskij, früher für seine »aufrührerischen« Bücher verfolgt, und seine Frau Maria Rosanowa begleiteten mich. Ich hatte sie vorgewarnt, es würde schwierig werden, aber sie wollten unbedingt sehen, wie die Leute Gorbatschow empfingen.
    Wir bekamen einen großen Saal. Während des ganzen Treffens störte ein ohrenbetäubendes Blasorchester. Ich musste mir alles Mögliche einfallen lassen, um den Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen und mit ihm in Dialog zu kommen. Ich hielt meine Ansprache und antwortete auf Fragen. Am Ende erhoben sich die Zuhörer vor Begeisterung. Aber im Zentralen Fernsehen wurden nur die Proteste der Kommunisten und die Schreie im Saal am Anfang des Treffens gezeigt. Wie meine Mitarbeiter vom Wahlstab sagten, war das eindeutig geplant. Andrej Sinjawskij war empört und schrieb einen großen Aufsatz darüber.
    Von einem Fall möchte ich gesondert erzählen. Als ich in St. Petersburg war, wandten sich die Einwohner von Iwan-Gorod an mich, das an der estnischen Grenze liegt. Die Stadt ist zweigeteilt, der eine Teil liegt auf estnischem Gebiet, der andere auf russischem. Deshalb kommt es zu allerhand Unstimmigkeiten und Unmut. Die Vertreter der Stadt hatten mich gebeten, sie zu besuchen. Viele Einwohner hatten sich versammelt. Das Kino mit 900  Plätzen war voll, und etwa genauso viele Menschen oder sogar noch mehr standen um das Kino herum. Als ich ankam, bildeten die Wähler ein Spalier, um mich zum Kino durchzulassen. Mir entgegen aber schritten Leute mit ekelhaften, beleidigenden Plakaten. Im Grunde genommen war das ein Spießrutenlauf. Trotzdem erreichte ich den Saal. Die Leute saßen nicht nur, sondern standen auch um die Tribüne herum.
    Sobald ich den Saal betrat, ertönten dieselben Parolen wie auf den Plakaten. Das dauerte 5 bis 10  Minuten. Ich konnte nicht anfangen zu reden. Aus verschiedenen Ecken hagelte es Beschuldigungen und Beleidigungen. Schließlich sagte ich: »Was wollt ihr? Ihr habt mich eingeladen, ich bin gekommen. Entweder ich halte jetzt meine Ansprache und ihr stellt mir danach Fragen, oder wir kommen gleich zu den Fragen.«
    Sie schrien und pfiffen weiter. Ich unterbrach sie: »Wollt ihr mich kreuzigen? Dann

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