Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
Krieges, auch dann noch, als sich die Ereignisse in diesen Ländern überstürzten …
In weniger als drei Jahren waren drei Generalsekretäre der Reihe nach gestorben und außerdem noch einige wichtige Politbüromitglieder. Ende 1980 starb Kosygin, im Januar 1982 Suslow, im November Breschnew, im Mai 1983 Pelsche, im Februar 1984 Andropow, im Dezember Ustinow und im März 1985 Tschernenko. Es lag etwas Symbolisches darin. Das System selbst lag im Sterben, es war vergreist und hatte keine Lebenskraft mehr. Mir war klar, was ich mir aufgebürdet hatte.
Zu Hause wurde ich festlich empfangen. Alle waren freudig erregt, doch es mischte sich auch Sorge darunter. In ihren Tagebuchaufzeichnungen hat Raissa festgehalten, wie Xenia zu mir sagte: »Dedulenka, ich gratuliere dir. Ich wünsche dir Gesundheit, Glück und dass du deinen Brei ordentlich isst.«
Exkursion in den Kreml: Mit Raissa und den Enkelinnen Xenia und Anastasia, 1990
Ja, den Brei auslöffeln, das musste ich wirklich!
Als ich in der Nacht zuvor mit Raissa darüber gesprochen hatte, dass ich vielleicht für den Posten des Generalsekretärs in Frage käme, hatte sie geantwortet: »Ich weiß nicht, ist das gut oder schlecht?«
Da erzählte ich ihr etwas, wovon ich nie gesprochen hatte. Andropow hatte einmal wörtlich zu mir gesagt: »Igel dich nicht zu sehr in deinen Agrarfragen ein. Befass dich mit sämtlichen Fragen der Innen- und Außenpolitik. Du musst davon ausgehen, dass du vielleicht morgen schon die ganze Verantwortung übernehmen musst.«
Ich war verblüfft, wie offen und direkt er das sagte.
Andropow fragte weiter: »Du verstehst, wovon ich rede?«
»Ich verstehe das sehr wohl. Aber ich weiß nicht, warum wir jetzt darüber reden.«
»Das bleibt unter uns.«
»Gut, in Ordnung.«
Raissa guckte mich verwundert an.
Übrigens, als kürzlich ein Film über Bundeskanzler Kohl gedreht wurde und ich mit ihm sprach, erzählte er etwas, das mir neu war. Während seines offiziellen UDSSR -Besuches hatten Andropow und er ein Gespräch geführt, das ihn sehr beeindruckte. Kohl hatte Andropow gefragt: »Können Sie sich jemanden als Ihren Nachfolger vorstellen, haben Sie jemanden im Blick?« Es sah so aus, als hätte er diese Frage im Zusammenhang mit Andropows Gesundheitszustand angeschnitten. Als ihm seine Taktlosigkeit zu Bewusstsein kam, fügte er hinzu: »Ich meine, wir sind alle in Gottes Hand. Heute leben wir, morgen …«
Andropow sagte, er setze auf den ZK -Sekretär Gorbatschow.
Die ersten Arbeitstage als neuer Generalsekretär begannen. Die gesamte Familie war sofort in einer völlig neuen Situation. Wir mussten uns erst einmal orientieren. Die ganzen nächsten Jahre würden wir uns damit abfinden müssen, dass die Blicke der Gesellschaft nicht nur auf mich, sondern auch auf Raissa und alle Familienmitglieder gerichtet sein würden.
Bis dahin hatte Raissa an ihre Habilitation gedacht, sie hatte Verbindungen zu Kollegen aufgenommen und wollte das Thema ihrer Habilitationsschrift anmelden. Nach dem März 1985 stand zur Diskussion: weitermachen oder verschieben. Sie kam selber zu einer Entscheidung und sagte zu mir: »Ich glaube, ich muss das alles auf bessere Zeiten verschieben.«
Das machten wir auch.
11 . Kapitel
Generalsekretär und »First Lady«
In den ersten Tagen nach meiner Wahl zum Generalsekretär fragte mich Raissa immer wieder: »Was soll ich tun, wie soll ich mich benehmen?«
»Wir ändern nichts. Wir benehmen uns wie bisher. Wir machen es wie bisher.« In der ganzen zivilisierten Welt übernehmen die Ehefrauen als Gefährtinnen der Präsidenten und Premierminister verschiedene gesellschaftliche Funktionen.
Raissa wollte wissen, was ihre konkrete Aufgabe war, jetzt, da die Familie im Zentrum der Ereignisse des Landes und der Welt stand. Dabei ist die ewige Behauptung, sie habe die politischen Entscheidungen getroffen oder Druck auf mich ausgeübt, Unfug. Sie wusste noch nicht einmal, wie das Politbüro arbeitet und was es tut. Sie interessierte sich mehr dafür, was in den Zeitungen, im Fernsehen, in der Gesellschaft diskutiert wurde.
Wie vermutet, wurde das öffentliche Auftreten der »First Lady« in der Gesellschaft unterschiedlich aufgenommen. Doch ich war mir in dieser Beziehung nie im Zweifel. Auch wenn wir den Begriff »First Lady« nicht ganz ernst nehmen konnten. Als Raissa zwischen Leben und Tod schwebte und die Familie und ich die ganze Zeit bei ihr waren, verstanden die Leute auf einmal, dass uns tiefe,
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