Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
kritisiert.
So oder so mussten alle diese Fragen geklärt werden. Ich beschloss, ein Buch zu schreiben, zumal wir uns einem bedeutenden Datum näherten, dem 70 . Jahrestag der Sozialistischen Oktoberrevolution. Ich sprach darüber mit meinen Kollegen. Nur Anatolij Tschernjajew unterstützte mich. Die anderen (Frolow, Jakowlew und Dobrynin) empfahlen, eine Reihe von Vorträgen zu halten oder einen Sammelband herauszugeben. Tschernjajew hingegen unterstützte meine Meinung – ein Buch zu schreiben, das Auftritte von mir im Politbüro und in anderen nichtöffentlichen Versammlungen ausführlich darlegen sollte, die dem Publikum nicht bekannt waren. Daher rührte auch das mangelnde Verständnis in der Gesellschaft für die Politik und ihre Intentionen und Denkansätze.
Den Sommer über arbeitete ich am Manuskript des Buches, besonders während des Urlaubs auf der Krim, den ich deshalb sogar um etwa zehn Tage verlängerte. Den Entwurf schickte ich an Ligatschow, Ryschkow, Jakowlew, Medwedew, Schewardnadse und Frolow und bat sie um Rückmeldungen. Die stichhaltigsten Anmerkungen, die ich im Wesentlichen aufgriff, erhielt ich von Medwedew. Die anderen beschränkten sich auf anerkennende Worte.
Das Buch verkaufte sich in hohen Auflagen sowohl bei uns als auch in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern der Welt. Es erreichte eine Gesamtauflage von fünf Millionen Exemplaren in 160 Ländern und 64 Sprachen.
Das Buch handelt von der Entwicklung der Perestrojka und der Herausbildung meiner Argumentation. Es beschreibt den Prozess, meine grundlegenden Ideen und Intentionen für die inneren Umgestaltungen und die Außenpolitik. Das bestimmte auch den Titel des Buches:
Perestrojka und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt.
[34] Das mag sich unbescheiden anhören, aber damals meinte ich genau diese Adressaten. In der UDSSR fand das Buch keine einfache Aufnahme. Im Westen wurde es – misstrauisch und sarkastisch – als ungerechtfertigter Idealismus oder als üblicher Propagandatrick abgetan. Kaum jemand glaubte damals, dass es einige Jahre später gelingen würde, die atomare Abrüstung voranzubringen, den Kalten Krieg zu beenden und den Gordischen Knoten der Weltpolitik zu entwirren, wenn auch nicht zu zerschlagen.
Man kritisierte mich wegen »Nachlässigkeit« in der Darstellung des Materials und Zurückhaltung in Bezug auf gewisse Themen. Doch ich wiederhole noch einmal: Das Buch wurde mit gewaltigem Interesse aufgenommen. Das eine oder andere wurde natürlich auch im Hinblick darauf geäußert, dass der Autor dieses Buches nicht irgendwer, sondern der Initiator der Perestrojka war. Mein erstes Buch ist also gleichzeitig die erste detaillierte Darlegung des Bekenntnisses zur Perestrojka.
Der Oktober und die Perestrojka: Die Revolution geht weiter
Es stellte sich die Frage: Welches Kriterium sollte für die Bewertung des zurückgelegten Wegs gelten? Je näher das Jubiläum der Oktoberrevolution rückte, desto lebhafter wurden die Diskussionen – in der Partei, in wissenschaftlichen Kreisen, im Land. Keiner der führenden Historiker, Philosophen oder Ökonomen äußerte sich gegen die sozialistische Wahl, aber die Frage nach der Natur der Gesellschaft und den Kriterien des sozialistischen Charakters beschäftigte die Menschen zunehmend.
Ich wusste, dass man vom Vortrag des Generalsekretärs eine Einschätzung des gesamten Komplexes der Fragen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, insbesondere im Hinblick auf die Perestrojka, erwarten würde. Wie hatte der Aufbau des neuen Lebens unmittelbar nach der Oktoberrevolution begonnen? Erneut wandte ich mich Lenins Schriften über die ersten Jahre der Sowjetmacht zu und las ausnahmslos alles. Anhand des Aufsatzes »Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht« ( 1918 ) konnte man beurteilen, wie sich Lenin die Bewegung hin zu einer neuen Gesellschaft vorstellte, die Logik der Umgestaltungen und die Methoden, an denen er sich orientierte.
In seinen folgenden Arbeiten ist bereits die Atmosphäre des Bürgerkriegs zu spüren. Und in den Aufsätzen der Jahre 1921 bis 1923 kommt die wachsende Sorge um das Schicksal der Revolution zum Ausdruck. Lenin war besorgt, dass sich die Methoden, die man im unerbittlichen Kampf gegen die Konterrevolution angewandt hatte, einbürgerten. Die Priorität der Gewalt und »der Ausnahmezustand«, derer sich die »proletarische Bürokratie« bediente, hatten tiefe Wurzeln geschlagen. Die Ablehnung dieses Erbes aus dem
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