Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
System«, von der »unerschütterlichen Völkerfreundschaft« und von unserer »trauten und geliebten Partei« gründlich. Eine Episode aus dem Winter 1952 / 53 hat sich mir besonders eingeprägt.
Mein jüdischer Freund Wolodja Liberman, ein ehemaliger Frontkämpfer, fehlte zu Beginn des Unterrichts. Er tauchte erst ein paar Stunden später auf. Nie zuvor hatte ich ihn in einem solch bedrückten und niedergeschlagenen Zustand gesehen. Er sah völlig verstört aus. »Was ist los?«, fragte ich ihn. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Es stellte sich heraus, dass eine johlende Menge ihn mit einem Hagel von Beleidigungen und Beschimpfungen überschüttet und aus der Straßenbahn geworfen hatte. Ich war erschüttert.
Der allmähliche intellektuelle Reifungsprozess und unser Bestreben, das Geschehen um uns herum zu verstehen, lösten Protest gegen die Scholastik und Buchstabentreue der Lehre aus, die manchmal ideologischem Drill nahekam. Es lag etwas Beleidigendes darin, etwas, das die menschliche Würde angriff.
Ich weiß noch, wie im Herbst 1952 , nach dem Erscheinen von Stalins Schrift
Ökonomische Probleme des Sozialismus in der
UDSSR
, einem der Lehrer nichts Besseres einfiel, als uns eine Seite nach der anderen aus dieser Schrift vorzulesen. Ich hielt es nicht aus und schickte ihm einen Zettel, auf dem stand, wir seien mit dem Inhalt des Werkes vertraut, das mechanische Ablesen bei der Vorlesung sei ein Mangel an Respekt gegenüber den Zuhörern.
Die Reaktion kam prompt. Der erzürnte Schulmeister äußerte sich dahingehend, einige besonders Kühne, die Angst hätten, mit ihrer Unterschrift ihren Namen offenzulegen, bildeten sich ein, sie hätten sich schon den »ganzen Reichtum der Grundsätze und Folgerungen angeeignet, die im Werk des Genossen Stalin enthalten seien«.
Ich stand auf und sagte, ich sei der Verfasser des Zettels. Da ging’s rund … Die Information über diesen Vorfall wurde an die Komsomol- und Parteiorgane weitergeleitet und erreichte das Moskauer Stadtkomitee der Partei. Ich war damals stellvertretender Sekretär für ideologische Fragen der Fakultätsorganisation des Komsomol (Sekretär war Boris Spiridonow, später Sekretär des Parteikomitees der MGU ). Am Ende verlief das Problem im Sande. Offenbar hatte erneut meine »Arbeiter-und-Bauern-Herkunft« geholfen.
Viele Jahre später, in den schweren Tagen des Dezembers 1991 , traf ich den Schriftsteller Beljajew, ebenfalls MGU -Student jener Zeit. Wir kamen auf diese Episode zu sprechen, und er sagte, Gorbatschow habe damals, in die moderne Sprache übersetzt, fast als »Dissident« gegolten. Das war ich natürlich in Wirklichkeit nicht, es wuchs nur eine kritischere Einstellung in mir zu den Ereignissen. Ich kannte ja das wirkliche Leben und wusste ein wenig, was sich in den Jahren der Herrschaft Stalins abgespielt hatte. Das ging vermutlich nicht nur mir so, sondern vielen. Wir waren keine Dissidenten im eigentlichen Wortsinn, wir waren eher »Revisionisten«, Anhänger einer Erneuerung des »realen« Sozialismus.
Zufällig habe ich den Brief des Akademiemitglieds Sacharow zum Tod Stalins im März 1953 gelesen. Hier nur ein paar Worte aus dem Brief: »Ich stehe unter dem Eindruck des Todes eines großen Mannes – und denke an seine Menschlichkeit …« Das konnte man damals ja noch verstehen. Aber wie soll man Menschen verstehen, die all das erlebt haben und wissen und trotzdem heute wieder die Antworten auf ihre Fragen bei Stalin suchen und mit seinem Porträt auf die Straße gehen?!
Damals beschloss eine Gruppe Studenten der Juristischen Fakultät, in den Säulensaal zu gehen und Abschied von Stalin zu nehmen. Stückchen um Stückchen rückten wir vor, standen dann stundenlang wieder auf der Stelle. Wir gingen um den Trubnaja-Platz herum, wo es zu einer entsetzlichen Massenpanik kam, die viele Menschen des Trauerzugs das Leben kostete. Eine ganze Nacht lang rückten wir Wohnblock für Wohnblock vor – bis wir schließlich den Sarg erreichten.
Bei Festparaden hatte ich Stalin früher mehrmals aus der Ferne gesehen. Jetzt hier im Säulensaal erblickte ich ihn das erste Mal aus der Nähe – tot.
»Was wird aus uns?« Diese Frage hörte ich von meinem Kommilitonen und Freund Zdeněk Mlynář. [9] »Mischa, was wird nun aus uns?!«, das waren wirklich seine Worte. Und sicher war das nicht nur Ausdruck seiner emotionalen Verfassung, sondern dahinter steckte auch das Verständnis, dass Stalin das ganze System
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