Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
verkörperte.
Die Studienjahre an der Universität waren für mich nicht nur ungeheuer interessant, sondern auch recht anstrengend. An Ehrgeiz fehlte es mir, ehrlich gesagt, nie. Alles Neue nahm ich recht schnell auf, aber um die Kenntnisse zu festigen, musste man eine breite Palette zusätzlicher Literatur durcharbeiten. Das war übrigens das Besondere der Universität im Unterschied zu vielen anderen Hochschulen.
Ich bin ein geselliger Mensch. Zu den Studenten meines Studienjahrs, aber auch zu vielen anderen Studenten der Fakultät hatte ich, wie es meine Komsomol-Verpflichtungen erforderten, ein kameradschaftliches Verhältnis. Es bildete sich auch ein relativ enger Kreis von Freunden. Dazu gehörten: Jura Topilin, Walerij Schapko, Wolodja Liberman, Zdeněk Mlynář, Rudolf Koltschanow, Lenja Tarawerdijew, Natascha Borowkowa, Nadja Michaljewa und Lija Alexandrowa. Mit diesen Freunden und weiteren, die ich hier nicht nennen kann, betrat ich eine mir neue, vorher unbekannte riesige Welt.
Wahlhilfe in Moskau
Schon vom ersten Semester an wurde ich mit gesellschaftlichen Aufgaben betraut. Eine der ersten war die Arbeit als stellvertretender Leiter des Agitationslokals für Wohnungsfragen im Moskauer Stadtteil Krasnopresnenskij. Unsere Arbeit spielte sich in den beiden ältesten Straßen Moskaus ab: der Bolschaja-Grusinskaja-Straße und der Malaja-Grusinskaja-Straße. Das brachte einen ungeheuer interessanten und lehrreichen Kontakt mit Moskau und den Moskauern mit sich. Unser Land bereitete sich auf die Wahlen zum Obersten Sowjet der UDSSR vor. Obwohl ich später, besonders in der Zeit der Perestrojka, als ich die Führung der KPDSU innehatte, jede Menge Wahlkämpfe erlebt habe, sind mir diese Wahlen und meine Arbeit in dem Moskauer Agitationslokal für immer im Gedächtnis geblieben.
Ich erinnere mich an die Gespräche mit den Wählern, die ich ins Wahl- oder Agitationslokal einlud, und an die Antworten auf ihre nicht enden wollenden Fragen. Manchmal musste ich mir auch einfach die Fragen notieren und sie erst klären, bevor ich Antwort geben konnte.
Die Straßen Bolschaja Grusinskaja und Malaja Grusinskaja damals, das war etwas ganz anderes als heute. Heute sind es Straßen mit modernen Häusern und einer guten Infrastruktur: Geschäfte, kulturelle Einrichtungen, Cafés, Restaurants und vieles andere, was die Menschen zum Leben brauchen. Damals aber standen in diesen Straßen Häuser mit Wänden aus undefinierbarem Material. Die äußere Bretterwand sah einigermaßen anständig aus, aber die innere Wand war aus unbearbeiteten und schlecht zueinanderpassenden Brettern zusammengeschustert. Der Zwischenraum zwischen den Wänden war mit Schlacke gefüllt. Mit den Jahren verfielen die Wände weiter und drohten zusammenzubrechen. Da ging es nicht mehr um Ästhetik, sondern man musste die Wärme irgendwie im Haus halten. Die Risse wurden zugespachtelt oder mit Stoff zugestopft. Das größte Problem waren die Decken, von denen ein Großteil renoviert werden musste.
Fast immer gab es Probleme mit dem Wasser und der Heizung. Die Versorgung lag in der Hand von kommunalen Wohnungsverwaltungen, bitterarmen Organisationen. Zwar konnten wir einige lokale Probleme lösen; doch die Häuser waren in einem miserablen Zustand. Alle Gespräche mit den Wählern in diesen Häusern endeten gleich: »Richten Sie den Behörden aus, dass die Handwerker saumäßig arbeiten, dass wir seit Jahren auf eine Lösung der Probleme warten. Das sind keine Häuser, sondern Sauställe. Wenn unseren Bitten nicht stattgegeben wird, gehen wir nicht zur Wahl.«
Erst da erkannte ich das wahre Leben der Moskauer und die Bedingungen, unter denen sie lebten. Ein niederschmetternder Eindruck! Natürlich hatte ich in meinen Studienjahren verschiedene Stadtteile Moskaus und unterschiedliche Häuser besucht.
In der Gorkij-Straße wohnte die Familie meines Komsomol-Freundes Viktor Blinow, dessen Vater als Abteilungsleiter im Moskauer Lichatschow-Autowerk arbeitete. Seiner Familie war eine Wohnung im Zentrum Moskaus zugeteilt worden, in einem neuen Haus. Das war eine wunderbare Wohnung. Ich war eingeladen, als Viktor dort seine Hochzeit feierte. In der Nähe der Blinows wohnte die hervorragende Schauspielerin Vera Marezkaja. Auch das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass dieses Haus ein Sonderfall war.
Bei unterschiedlichen Gelegenheiten war ich in den Familien meiner Studienkollegen zu Besuch – eine ganz andere Moskauer Welt mit ganz anderen
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