Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
war Systemkritik, also eine Bedrohung für die Existenz des Systems. Die Hauptsache aber war: Die Leute begannen die Machthaber zu fragen: »Und wo wart ihr damals?«
Viele Jahre später, als ich während seines Urlaubs im Kaukasus Andropow begegnete, kamen wir auf Ungarn und die Ereignisse des Jahres 1956 zu sprechen. Er erzählte mir eine Erinnerung von damals. Gleich nach dem 20 . Parteitag wurde er als Botschafter der UDSSR vom damaligen ungarischen Generalsekretär Mátyás Rákosi überraschend zur Jagd eingeladen. In einem Vieraugengespräch sagte Rákosi, der Russisch konnte: »Was ihr auf eurem Parteitag angestellt habt, ist ein Unglück. Und wer weiß, was für Folgen das bei euch und bei uns noch haben wird.«
Angesichts des Unverständnisses, das im Land herrschte, machte die Leitung der KPDSU einen Rückzieher: In einem in der
Prawda
wiederabgedruckten Artikel aus einer chinesischen Zeitung hieß es, Stalin habe »den Willen des Volkes zum Ausdruck gebracht« und sei ein »herausragender Streiter für den Marxismus-Leninismus« gewesen.
Ende Juni erschien der ZK -Beschluss »Über die Überwindung des Personenkultes und seiner Folgen«, in dem »Stalins Treue zum Marxismus und Leninismus« hervorgehoben und bekräftigt wurde, auch der »Kult« habe die »Natur unseres Gesellschaftssystems« nicht gefährdet.
Heute melden sich oft Stimmen, werden Artikel und Bücher verfasst, die von Chruschtschows Fehlern reden. Ja, es hat sie gegeben, doch seine Verdienste sind größer als seine Fehler. Er schaffte die Grundlage für den Kampf gegen den Stalinismus, brachte die Politik der friedlichen Koexistenz hartnäckig voran, setzte die Rehabilitierung von Millionen unschuldig verfolgter Menschen durch und machte Stalins Entscheidungen über die Deportation ganzer Völker nach Sibirien rückgängig. Das betraf die Karatschaier, Balkarzen, Inguscheten, Tschetschenen, Kalmücken und Krimtataren.
Ich hatte unmittelbar mit dem Prozess der Wiedereingliederung in einigen Regionen zu tun, vor allem natürlich in der Region Stawropol. Es ging um die Karatschaier. Sie kehrten in die Gegenden zurück, wo sie früher gewohnt hatten. Das war sehr schwierig, denn es gab kein freies Land und erst recht keinen freien Wohnraum. Man musste alles von vorn anfangen und für die Menschen einrichten. Um dieses Problem lösen zu können, vergrößerte man das Gebiet von Karatschai-Tscherkessien. Der Staat teilte jeder Familie Geld zu, damit sie sich ein Haus bauen und andere benötigte Dinge kaufen konnte.
Besonders lange beschäftigte mich der Auftrag, in Kalmückien – anfangs zum Stawropoler Land gehörig – wieder eine Komsomol-Organisation aufzubauen. Die Stawropoler waren durch ein jahrzehntelanges Zusammenleben mit den Kalmücken verbunden. Die Kalmücken sind ein ruhiges, arbeitsames Volk, richtige Steppenbewohner. Man siedelte sie meist in Dörfern an, denn sie hatten sich die Liebe zur Pferde-, Schaf- und Viehzucht, besonders zur Aufzucht kalmückischen Viehs, erhalten. Ich machte damals die Bekanntschaft vieler junger Leute. Diese Freundschaft überdauerte auch, als Kalmückien später eine autonome Republik wurde.
Inzwischen habe ich den früheren Präsidenten von Kalmückien, Iljumschinow, näher kennengelernt, einen sehr aktiven und interessanten Mann. Bei unseren Begegnungen mussten wir immer an den Manytschsee denken, der jetzt Naturschutzgebiet ist. Ich wollte immer mal Ende April, Anfang Mai zu Iljumschinow nach Kalmückien fahren. Das ist die Zeit, in der sich die kalmückische und die benachbarte Stawropoler Steppe mit einem Tulpenteppich bedecken. Über zehn bis dreißig Kilometer öffnet sich nach allen Seiten ein Blumenmeer. Leider ist es bisher noch nicht zu dieser Reise gekommen.
Jetzt investiert Iljumschinow viel Kraft und Zeit in die weltweite Entwicklung des Schachspiels. Da hat er große Verdienste. Er wird geschätzt für das, was er für die Menschen tut. Schade, dass ich kein guter Schachspieler bin.
Von Schach, diesem wunderbaren Spiel, hörte ich übrigens zum ersten Mal in der Kriegszeit, als die Gorbatschows, eine mit uns verwandte Familie, aus Salsk zurückkehrten. Mit ihnen kam Viktor Mjagkich, der neben anderen Kindern auch mich mit diesem komplizierten Spiel bekannt machte. Bevor wir uns die Bedeutungen und Möglichkeiten einer jeden Figur einprägen konnten, mussten wir erst mehrere Sets Schachfiguren schnitzen und »Schachbretter« zeichnen. Als wir aber erst einmal auf den
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