Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
lernten wir die Leute kennen und mussten natürlich erzählen, wer wir sind.
»Warum sind Sie eigentlich gekommen? Doch nicht, um bei der Sonntagsschicht mitzumachen!«
»Natürlich nicht. Wir sind gekommen, um anderen erzählen zu können, wie eure Komsomol-Organisation funktioniert.«
»Wir unterstützen den Kolchos-Vorsitzenden und beteiligen uns an allem, was anliegt. Er tut nämlich auch einiges für uns. Wir haben viele Jugendliche: Keiner läuft aus der Kolchose weg, sie machen eine Ausbildung, kehren als Fachleute zurück und setzen sich bei uns ein. Häufig besuchen uns Künstler, die Kolchose bezahlt ein Wanderkino, wir können kostenlos Filme sehen, nicht sehr häufig, aber immerhin.«
Als ich fragte, was sie von ihrer Komsomol-Organisation halten, erhob sich ein Sturm. Die Empörung richtete sich gegen Grigorij Dobroskokin, den Komsomol-Sekretär.
»Unser Sekretär hat sich in Affären verstrickt und schämt sich, vor die Jugendlichen zu treten. Das ist alles.«
Am nächsten Tag trafen wir uns mit Dobroskokin. Als ich ihm sagte, wir seien gestern bei der Sonntagsschicht dabei gewesen und die Komsomolzen hätten da vieles erzählt, war er verlegen und konnte nichts entgegnen.
»Du musst gehen. Was bist du denn für ein Komsomol-Leiter? Tritt zurück, oder wir müssen dich absetzen.«
»Ich trete zurück.«
Als ich Tschuchno bei unserem Treffen den Grund meines Kommens nannte und von dem Gespräch mit den Komsomolzen erzählte, bat er: »Helfen Sie uns, einen Komsomol-Sekretär zu finden. Wir haben viele Jugendliche, man muss sich mit ihnen befassen und sie organisieren. Ich bin sehr interessiert an einer guten Komsomol-Arbeit. Er wandte sich an Nikolaj Solotopup: »Komm zu uns, Nikolaj, wir arbeiten zusammen.« So geschah es dann auch ein paar Tage später.
Ich kehrte also nicht mit Material über ein fortschrittliches Experiment nach Stawropol zurück, sondern mit Vorschlägen, wie man der Komsomol-Organisation dieser berühmten Kolchose helfen könne.
Bei meinen ersten Reisen merkte ich, dass meine offenen Urteile über die Probleme der Jugend den örtlichen Parteibonzen nicht in den Kram passten. Einige von ihnen »berichteten« dem Regionskomitee der Partei von meiner Reise. Ich erhielt eine Vorladung zum Kreiskomitee. Als ich meine Eindrücke und Aktivitäten schilderte, hörten die Parteimitglieder zu und unterstützten mich.
Die Menschen wollen es nicht glauben
Anfang 1956 gab es ein Ereignis, das ein Schock für unser ganzes Land war: der 20 . Parteitag der KPDSU und Chruschtschows Referat über den Personenkult. In alle Parteifilialen wurden rote Büchlein mit einer ausführlichen Darstellung dieses Referats und weiteres Material geschickt, anhand dessen die Funktionäre Überzeugungsarbeit leisten sollten. Die Reaktion auf das Referat und auf die Beschlüsse des Parteitags war unterschiedlich.
Ich gehörte zu denen, die die Ergebnisse des Parteitags verbreiten sollten. Von Anfang an spürte ich, dass die Leute im Bezirk Nowoalexandrowsk, zu denen ich geschickt worden war und bei denen es sich im Wesentlichen um Kosaken handelte, nicht alles glauben wollten, was ich ihnen erzählte, obwohl ich mich auf die Fakten und das Referat Chruschtschows berief. Ich erzählte Nikolaj Weretennikow, Parteisekretär des Kreiskomitees, von meinem Eindruck. Er antwortete: »Michail, unter uns gesagt: Wir wissen auch nicht, was wir machen sollen – die Leute wollen es nicht glauben.«
Wir verabredeten, in der verbleibenden Woche Treffen mit kleinen Gruppen zu veranstalten: in Reparaturwerkstätten, auf Farmen und in Brigaden. Und so machte ich es auch. Das war ein richtiger Schritt. Die Menschen fingen an, sich zu interessieren, stellten Fragen, waren verwundert: »Wie bitte? Das kann doch wohl nicht wahr sein!«
Bei einem dieser Treffen sagte ich: »Aber ihr wisst doch eigentlich alles. Auch in eurem Bezirk wurden in den dreißiger Jahren viele unschuldige Menschen verfolgt. Die Namen? Ihr kennt sie doch! Ein Teil kam um, andere waren jahrelang im Lager.«
Eine Frau verteidigte Stalin und die Verfolgungen und sagte: »Unsere Tränen sollen alle teuer zu stehen kommen, die uns unter Zwang in die Kolchosen getrieben und Druck auf das Volk ausgeübt haben. Aber was hat das mit Stalin zu tun?«
Die Information, die von der Peripherie ins Zentrum zurückfloss, bewirkte, dass die Einschätzung Stalins geändert wurde. Intuitiv oder mit aller Klarheit begriff die Parteispitze: Die Kritik an Stalin
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