Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
trotzdem konnte ich mich jetzt sehr viel mehr um Raissa kümmern.
Das brennendste Problem dieser Jahre war die Arbeitslosigkeit. Die jungen Leute, egal ob Komsomolzen oder nicht, kamen mit ihren Problemen zum Stadtkomitee. Und die Komsomol-Komitees verwandelten sich in »Arbeitsämter« für die Jugend. Auf unsere Appelle, Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, reagierte ehrlich gesagt kaum jemand. Wir bekamen oft zu hören: »Wir würden ja gerne, aber wir können nicht.« Wir begannen Informationen über Arbeitsstellen zu sammeln. Es stellte sich heraus, dass es zwar welche gab, sie aber unter der Hand vergeben wurden, gegen Schmiergeld. Ich musste mir überlegen, wie man die Wirtschafts- und Parteibürokratie dazu bewegen konnte, den Komsomol der Stadt ernst zu nehmen.
Wir schufen eine »Abteilung der leichten Kavallerie« nach dem Vorbild der Komsomolzen der ersten sowjetischen Jahre. Dabei handelte es sich um eine gesellschaftliche Initiative, durch die die Jugendlichen kontrollierten, was in der Stadt passierte. All das natürlich im Rahmen des Gesetzes, ohne Aneignung fremder Funktionen. Als wirksames Mittel erwies sich die Zeitung
Geht nicht an uns vorüber!
. Die Einsätze der »Leichten Kavallerie« wurden in Fotos und Zeitungsnotizen über die Missstände in den verschiedensten Lebensbereichen festgehalten. Die Zeitung wurde an einer Kreuzung im Zentrum der Stadt ausgehängt. Keiner wollte in unsere Zeitung kommen. Die Leitung bemühte sich nun um »Freundschaft« mit dem Komsomol-Stadtkomitee.
Aber es gab auch Drohungen vonseiten der Bürokratie. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurde uns vorgeworfen, wir beschäftigten uns nicht mit Dingen, die den Komsomol angehen: Erziehung, Organisation der Erholung für Jugendliche (die gerade aus Langeweile die öffentliche Ordnung störten). Es wurde behauptet, auf den Straßen der Stadt, im Park, an öffentlichen Plätzen herrschten die Rowdys, und der Komsomol sehe zu. Wir mussten auch hier etwas unternehmen. Wir schufen eine Operative Komsomolzen-Abteilung (abgekürzt: OKA ), die den Kampf mit dem Rowdytum aufnehmen sollte. Auf unser Drängen statteten sie die städtischen Behörden mit Fahrzeugen aus. In einem bestimmten Turnus wurden der OKA auf Beschluss der Behörden Dienstfahrzeuge zur Verfügung gestellt. Nun konnten die Komsomolzen entschlossen und, was die Hauptsache war, auch rechtzeitig durchgreifen. Bei den Einsätzen zur Beschwichtigung der Rowdys waren immer Mitarbeiter des Komsomol-Stadtkomitees und der Miliz dabei. Mitglied der OKA zu werden, war nicht einfach: Man musste gute Referenzen haben. Doch die Situation besserte sich dadurch.
Die Notwendigkeit, die Arbeit mit Jugendlichen inhaltlich und methodisch zu ändern, lag auf der Hand. Das war auch im Sinne des 20 . Parteitags. Wir beschlossen, beim Komsomol-Stadtkomitee einen Diskussionsclub zu schaffen. Später in den sechziger Jahren kamen in vielen Städten derartige Clubs und »mündliche Magazine« auf. Als wir aber zusammen mit Rudenko, dem Leiter des Lehrstuhls für Pädagogik, einen solchen Club bei uns in Stawropol schaffen wollten, war das zumindest für unsere Region eine unerhörte Neuheit. Und nicht nur die Jugend, sondern unsere ganze Stadt reagierte darauf. Wir brauchten nur eine Tafel anzubringen, auf der als Thema des Streitgesprächs stand: »Lass uns über den Geschmack reden«, die Reaktion folgte auf dem Fuß. Wachsame Bürger riefen im Partei-Stadtkomitee an: »Mitten im Zentrum ist eine Tafel … Das ist bestimmt eine Provokation!«
Die erste Diskussion übertraf alle Erwartungen. Es wurde lebhaft, engagiert und bisweilen ohne Schonung der Stimmbänder gestritten. Die Treffen im Club fanden immer häufiger statt. Das Interesse an unseren Diskussionen wuchs. Die Menschen kamen, drängten sich in den Fluren und saßen auf den Stufen. Wir mussten einen geräumigeren Saal suchen: den Club der Miliz.
Ich führte bei allen Sitzungen des Clubs den Vorsitz. Eine dieser Sitzungen hat sich mir besonders eingeprägt. Es ging dabei um die Kultur. Verschiedene Aspekte wurden angesprochen. Auf einmal begann ein junger Kerl, fürchterlich aufgeregt von der Kunst im Sozialismus zu reden. Davon, dass vor allem der Mensch selbst mit seiner jahrhundertelangen Geschichte die Kultur sei, während wir sie nur auf eins reduzierten: die Ideologie. Und dass man uns eine Ideologie eintrichtern wolle, sei an sich schon eine Verzerrung des Begriffs Kultur.
Das war zu viel des Guten.
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